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Machen Computer Kinder schlau?

von Wolfgang Bergmann


Ich hatte gerade die letzten Seiten dieses Buches geschrieben, da rief eine nette Journalistin der Deutschen Presse Agentur an und fragte anlässlich der Nürnberger Spielwarenmesse nach meiner Meinung über Kinder und Computer. Ich sagte, weil mich die Fertigstellung des Manuskriptes in muntere Stimmung versetzt hatte und weil es meiner Meinung entspricht: Computer und Videospiele und andere elektronische Spielzeuge, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten, machen schlau.

Kaum war die Agenturmeldung in die verschiedenen Redaktionen getickert, stand bei uns zu Hause das Telefon nicht mehr still. Einer erkundigte sich verstört, ob es mir mit solchen Aussagen tatsächlich ernst sei. Schließlich, sagte er - es war wohl ein Kulturredakteur, wenn ich es richtig verstanden habe - , drohe das Ende der Lesekultur. Ob mich, einen Kinderpsychologen, diese Tatsache nicht von Herzen beunruhige. Ich stimmte ihm zu. Es beunruhigte mich.

Ein anderer - er kam von Giga, dem Internet-TV - freute sich, dass endlich jemand, der von Berufs wegen als Bedenkenträger gilt, seine ganz persönliche Spiellust zu würdigen wisse. Ich mußte ihm freilich mitteilen, dass ich sein Lieblingsspiel Half Life für ein zwar faszinierendes, aber riskantes und für Kinder völlig ungeeignetes Spiel halte. Ansonsten haben wir uns prächtig unterhalten.

Und alle anderen, zu meiner großen Überraschung, begannen ihre Interviews mit folgender Frage: Es sei doch weithin bekannt, dass Computer im Kinderzimmer eine bedenkliche Entwicklung darstellten oder dass zumindest Psychologen dies so sehen würden. Wie ich mich denn in meiner Außenseiterposition so fühlte?

"Die Angst vor dem Computer ist so unbegründet wie die Angst unserer Vorfahren vor der Eisenbahn"

Hervorragend, sagte ich, und wunderte mich. Sollten sie Recht haben? Sollte sich tatsächlich, trotz millionenschwerer Aktionen wie "Schule ans Netz", trotz breiter Unterstützung für berufliche Förderungen im Bereich "neue Medien" die Kaste der Pädagogen und Psychologen zu Fortschritt und Zukunft immer noch so verhalten, wie es um die Jahrhundertwende meine Vorfahren, die westfälisch-lippischen Bauern, zur Eisenbahn taten? "Düwelstüch", Teufelszeug, sagten sie, und die Eisenbahn wurde um mein winziges Heimatland Lippe-Detmond herumgeführt. Das nächste halbe Jahrhundert fuhr man bei uns mit dem Bus. Sollte es also in den Köpfen de allermeisten Kollegen angesichts moderner Zukunftsszenarien ähnlich zugehen wie in sturen westfälischen Bauernköpfen? Ganz auszuschließen ist das nicht.

Kurzum, an diesen Gesprächen und Interviews wurde zum wiederholten Mal das ganze Dilemma deutlich, das sich hierzulande mit dem Thema "Kinder und Computer" verbindet. Es hat viele Facetten und ist die Ursache vieler Missverständnisse - die allermeisten liegen schlicht darin, dass die Erwachsenen, die Pädagogen, Lehrer und Psychologen vorweg, von Computerspielen reden wie ein Beduine vom Nordpol.

"Viele selbst ernannte Experten verunsichern statt zu beraten"

Sie wissen nichts Genaues. Und bekanntlich lässt sich über das, was man nur ungefähr kennt, unbefangen plaudern und urteilen. Jeder Stammtisch lebt davon. Und leider ähneln viele erziehungswissenschaftlichen und kinderpsychologischen Fachkongresse verzweifelt solchen Stammtischgesprächen. Wenn sie doch wenigsten unter sich blieben! Tun sie aber nicht. Sie ernennen sich zu Experten, und wer immer einen Professorentitel vor seinem Namen trägt, findet auch ein Forum, auf dem er seine bedenkenschwere Stimme erheben und den Eltern Angst machen kann. Und andere, die Avantgardisten par excellence, die jede Mode der Kinder- und Jugendkultur begrüßen, als sei sie der Beginn einer neuen Heilsgeschichte, sind auch nicht viel besser. Auch sie verunsichern, statt zu beraten.

Ich habe in einigen der angefragten Interviews meinen Standpunkt darzustellen versucht. Das geht in wenigen Minuten allerdings sehr schlecht. Und mehr Zeit nimmt sich die TV- und Radiokultur ja meist nicht (zunächst erklärt ein aufgedrehter Redakteur, wie wichtig ihm und seinem Boss gerade dieses Thema erscheine und ob man nicht sofort aus dem Stand heraus ein Gespräch usw...und dann erfährt man im selben Atemzug, dass für das ungemein wichtige Gespräch, das nicht den geringsten Aufschub duldet, maximal fünf bis sieben Minuten vorgesehen seien. Zu verstehen ist das nicht!)

Mein Standpunkt, der unterschiedliche Aspekte des Themas in sich vereinigt, ist auf diese Weise kaum darzulegen. Schon darum waren die Interviewanfragen nützlich: Sie trieben mich immer wieder an meinen Computer, weil ich da wenigstens eine Chance sah, meine Überlegungen einigermaßen in Ruhe auszubreiten, und so halten Sie jetzt ein Buch in Händen, das mehr als einmal überarbeitet, ergänzt, verbessert und wieder zusammengestrichen wurde.

"Notwendig ist ein Kompass, der durch das Dickicht des Kindersoftware-Marktes führt"

Es ist unbestritten, dass viele Eltern trotz der Überfülle an Experten-Meinungen in Zeitschriften und anderswo, immer noch nicht recht wissen, was von den neuen Medien zu halten ist. Ob ihre Kids vor dem Monitor verdummen oder gar Schaden an ihrer Seele nehmen. Oder ob sie sich in die Zukunftstechnoloigie schlechthin einüben und mit jedem Spiel ihre beruflichen Chancen verbessern. Aber vor allem wissen sie nicht, welche Computerspiele ihren Kindern zuträglich sind und welche nicht.

Mein Buch kann diese Lücke nur teilweise schließen. Ich werde auf den folgenden Seiten eine Reihe von guten, teils hervorragenden PC-Spielen vorstellen. Einige werde ich beispielhaft herausgreifen und analysieren. Ich denke, es ist hilfreich, wenn sich besorgte Eltern von diesem und jenem Spiel ein möglichst anschauliches Bild machen können - und zwar bevor es im Hause ist, wo man es den aufgeregten Händen der Kleinen kaum mehr vorenthalten kann. Weitere Spiele, die mir sinnvoll oder nützlich oder einfach lustig erscheinen, stelle ich nur kurz vor. Ich hoffe den Eltern ein en verlässlichen, wenn auch unvollständigen Kompass durch die unwegsame Landschaft der vielen, vielen Angebote und der wenigen Glanzlichter auf dem Kindersoftware-Markt anbieten zu können.

Meine Auswahl ist subjektiv; sie spiegelt meine ganz persönlichen Vorlieben und Abneigungen wider und hat nur zwei Kontrollinstanzen geduldet: die Kinder in meiner kinderpsychologischen Praxis und meinen 13-jährigen Sohn. Sie haben meine Lieblingsspiele kritisch gesichtet, meine Abneigungen geprüft - und ich darf zu meiner stillen Freude sagen, dass wir im Großen und Ganzen zu übereinstimmenden Urteilen gekommen sind. Einige ihrer Meinungen habe ich in diesem Buch aufgenommen, sie sind mal länger, mal kürzer, mal kritischer, mal plaudernder ausgefallen - aber alles in allem, wie gesagt, waren wir uns einig. Ihre Vorlieben sind auch meine und umgekehrt.

Das Internet kommt in diesem Buch noch etwas zu kurz. Das liegt einfach daran, dass die meisten Kinder, mit denen ich zu tun habe, das Internet, soweit zu Hause vorhanden, zwar zum Chatten, nicht aber zum Spielen benutzen. Mein Eindruck ist, dass die im Internet umlaufenden Adventure- und Rollenspiele bislang eine Sache für ausgesprochene Spielfreaks sind, für die richtig ausdauernden Jungen und die wenigen Mädchen einer relativ exklusiven Szene. Das wird sich ändern, vermute ich. Abe bis heute und bis auf weiteres ist das Internetangebot an Spielen für "normale" Eltern, deren Kinder sich im "normalen" Rahmen mit Computerspielen beschäftigen, wenig interessant.

Eine Ausnahme gibt es allerdings. Die Schulbuchverlage Cornelsen und Klett heben einen Internet-Service für Schüler eingerichtet, bei dem Hausaufgaben nachgefragt, Nachhilfe teilweise organisiert und Lerntipps ausgetauscht werden können - vergleichbare Dienste gibt es jetzt auch im Handy-Format. Auch dies ist eine Entwicklung, von der eine Veränderung nicht nur des Nachmittags-Lernmarktes, sondern auf Dauer des gesamten Schulwesens ausgehen wird. Aber bis auf weiteres gilt: Derzeit ist das alles noch eine mehr oder weniger akademische Fragestellung.

"Die digitalen Medien werden den Schulunterricht von Grund auf verändern"

Fraglos werden die digitalen Medien in jeder Hinsicht den konventionellen und unglaublich verstaubten Schulunterricht die Reformen aufzwingen, die längst überfällig sind. Ob es freilich vernünftige Reformen sein werden, steht noch dahin. Ich habe keinen Zweifel, dass sie alle Sparten, alle Fächer, alle Inhalte und alle Lernmethoden erfassen werden, sie werden aber, zugespitzt gesagt, ohne die notwendige pädagogische und bildungspolitische Diskussion einfach mit dem kalten Wind der Technologie über die Schulen und andere Bildungsinstitutionen hereinbrechen und sie von Grund auf verändern. Hoffen wir, dass die vielen Versäumnisse der fachlichen Diskussionen dann nicht endgültig zum Nachteil der Schüler ausschlagen.

Dies alles dauert bei uns in Deutschland ein bisschen länger als anderswo. Insoferne spielen die digitalen Medien, die neben der Spielesoftware noch sehr verhalten auf den Markt drängen, in diesem Buch noch eine untergeordnete Rolle. Das entspricht dem Mediengebrauch in Schule und Familie. Aber ganz aussparen wollte ich die Spiel-Cyborgs und das Internet als Bildungsmedium natürlich auch nicht. Zwei der wichtigsten Projekte werden am Schluss dieses Buches vorgestellt.

Weil ich aber nicht die geringste Lust verspürte, mich sozusagen per Internet nochmal auf die Schulbank zu setzen, habe ich eine Internet-Agentin angeworben, 14 Jahre alt, des konventionellen Schulunterrichtes überdrüssig und trotz mäßiger Noten hochintelligent: Sie ging für mich auf die Internet-Pirsch und brachte einen zustimmenden, aber keineswegs begeisterten Bericht über die dort angebotenen Lernhilfen mit. Er ist auf den Seiten 216 und 217 nachzulesen.

Insgesamt bleibt, nach Durchsicht der Angebote im Internet und auf dem Spielemarkt, ein zwiespältiges Resümee: Die Anfänge sind gemacht, sie sind wichtig, nützlich und notwendig. Aber ausgerechnet im Bereich der Lern-Software, der sogenannten edutainments, fehlt es den marktführenden Schulbuchverlagen an Mut, um Ideen jenseits der üblichen Methodik, um Lust am Wissen jenseits der hierarchischen Didaktik zu präsentieren. Die Spiele, die ganz ohne pädagogische Ambitionen daherkommen, sind im Durchschnitt erheblich bessere und der Intelligenz der Kinder förderlicher. Ein ganz anderes Lernen ohne Schule - das ist letztlich die große Perspektive, die das Internet und die Computer bieten. Wir müssen aber noch ein wenig darauf warten.

"Der Umgang mit Computern ist geeignet, die intellektuelle und emotionale Intelligenz zu fördern"

Eine weitere Aufgabe habe ich mir mit diesem Buch gestellt. Ich versuche, die Erlebnisse und Erfahrungen, die geistigen und seelischen und intellektuellen Vorgänge, die ein Kind beim Computerspielen durchläuft, darzustellen und sie unter lernpsychologischen Gesichtspunkten zu würdigen. Ich will damit durchaus auch in die fachliche Diskussion eingreifen. Denn dort wird oft ohne Anschauung und Kenntnis der Sache geredet und spekuliert. Ich versuche auf den folgenden Seiten, die psychologischen Überlegungen entlang der konkreten Erfahrungen im Umgang mit PC-Spielen darzustellen und anschaulich zu machen. Wichtig ist mir, den Eltern und aufgeschlossenen Lehrern und allen anderen, die privat oder im Beruf mit Kindern zu tun haben, aufzuzeigen, dass sich der Umgang mit dem Computer auch aus fachlich-psychologischer Perspektive als sinnvoll erweist. Es gibt eine Reihe von Gründen, die eine Förderung der intellektuellen und der emotionalen Intelligenz beim Spiel am Computer nahe legen. Ich werde sie ohne jeglichen Fachjargon aufzeigen. Die sollen Mut machen.



Der obige Beitrag ist das Einführungskapitel zum Buch "Computer machen Kinder schlau" des deutschen Psychologen Wolfgang Bergmann (wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung). Das Buch setzt sich in populärer, lesbarer aber doch fundierter Form mit dem Thema "Kinder und Computerspiele" auseinander. Seine persönlichen Lieblingsspiele beschreibt der Autor recht ausführlich und versucht auch darzulegen, warum er diese Spiele für gut hält. Insgesamt ein durchaus empfehlenswertes Buch für Eltern, die sich mit der Frage auseinandersetzen (müssen), ob und welche Computerspiele für ihre auch noch kleineren Kinder sinnvoll sind - und welche Eltern müssen das nicht?

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Archiv unter "Kinder & Jugendliche und Neue Medien"


Bei Interesse: Wolfgang Bergmann, Computer machen Kinder schlau, München: Beust 2000
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