Macht das Internet süchtig?
von Nicola Döring
Es gibt mittlerweile eine wachsende Zahl von Menschen, die sich
selbst als "internet-süchtig" bezeichnen. Sie verbringen nicht
selten 10-20 Stunden täglich mit Netzaktivitäten. Ihr gesamter
Alltag bricht zusammen, es gibt keine anderen Interessen mehr.
Familie, Freunde, Arbeit - alles ist gefährdet. Hinzu kommen finanzielle
und gesundheitliche Belastungen. Wirft man einen Blick in die
seit 1994 bestehende Online-Selbsthilfegruppe zur Internet-Sucht
(Internet Addiction Support Group: I-A-S-G), ist jeder Zweifel
an der Ernsthaftigkeit des Problems sofort zerstreut. Woche für
Woche sind in dieser Mailingliste erschütternde Erfahrungsberichte
und Hilferufe von Betroffenen sowie ihren Angehörigen zu lesen.
Neulich meldete sich beispielsweise eine Schülerin zu Wort:
"Meine Mutter sitzt von morgens bis abends im Schlafanzug am Computer
und plaudert per Tastatur mit ihren Netzbekanntschaften. Sie geht
überhaupt nicht mehr aus dem Haus und ist für uns praktisch nicht
ansprechbar. Ich weiss nicht, wie lange das noch so weitergehen
soll. Wenn meine Freundinnen mich fragen, warum bei uns ständig
das Telefon besetzt ist, schäme ich mich richtig."
Wenn Internetnutzung außer Kontrolle gerät, scheint professionelle
Hilfe notwendig. Deshalb hat die Psychologin Dr. Kimberly Young
von der Universität Pittsburgh ein Zentrum für Online-Sucht im
World Wide Web eröffnet (http://www.netaddiction.com). Sie zweifelt nicht daran, dass Internet-Sucht ein neues klinisches
Störungsbild ist, das sich rasant verbreitet. So düster diese
Prognose für die Gesellschaft sein mag, so günstig ist sie wiederum
für all diejenigen, die mit der Bekämpfung von Internet-Sucht
ihr Geld verdienen (wollen).
Dr. John Grohol, Psychologe in Ohio und Verwalter der Mental Health
Page "Psych Central" (http://www.psychcentral.com), glaubt vorerst nicht an die Existenz einer neuen Störung namens
"Internet-Sucht". Er ist seit knapp 20 Jahren im Netz aktiv und
hält es für vollkommen unseriös, ohne fundierte psychologische
Forschungsarbeit allein auf der Basis von ein paar Erfahrungsberichten
und Umfrage-Daten eine neue Krankheit zu postulieren. Kritische
Stimmen wie John Grohol bestreiten nicht, dass einige Menschen
sich mit exzessiver Netznutzung Schaden zufügen. Sie betonen jedoch,
dass Extremnutzung nicht vom Internet selbst verursacht wird,
sondern auf psychische und soziale Konflikte zurückgeht, die die
Betroffenen bereits mitbringen. Wenn eine Frau ihre Familie vollkommen
vernachlässigt und ganz in ihren Online-Flirts aufgeht, ist es
nur eine Schein-Erklärung, sie kurzerhand als "internet-süchtig"
zu diagnostizieren. In Wirklichkeit sucht sie vielleicht erotische
Abwechslung, will sich den Konflikten mit ihren pubertierenden
Kindern entziehen oder depressive Verstimmungen bekämpfen.
Wenn ein Student sich an Dutzenden von Diskussionforen im Netz
beteiligt, den ganzen Tag damit verbringt, nach Informationen
zu suchen und Diskussionsbeiträge zu schreiben, so dass darüber
sein Studium scheitert, hilft es ebenfalls nicht, ihn als "internet-süchtig"
zu klassifizieren. Vielleicht sucht er im Netz Anerkennung, die
ihm im Studium fehlt, vielleicht hindert ihn die Prüfungsangst
am Studienabschluss, vielleicht kann er sich mit seinem Studienfach
nicht mehr identifizieren. Aus psychologischer Sicht braucht man
also keine spezielle Therapie für Internet-Sucht, sondern muss
stattdessen mit den herkömmlichen Methoden jene Konflikte angehen,
die hinter der extremen Netznutzung stehen. Extremnutzung ist
ernstzunehmen, betrifft aber zum Glück nur einen sehr kleinen
Bruchteil der Netzgemeinde.
Wer vorschnell von "Internet-Sucht" spricht, tappt bei problematischer
Netznutzung in die Falle einer oberflächlichen Schein-Erklärung
und läuft ansonsten Gefahr, unseren kulturellen Vorurteilen über
neue Medien aufzusitzen: Wenn die 14jährige Tochter sich zur leidenschaftlichen
Leserin entwickelt und ganze Tage und Nächte hinter Büchern verbringt,
zeigen sich die meisten Eltern erfreut über ein so anspruchsvolles
Hobby. Stürzt sich die Tochter dagegen mit vergleichbarer Begeisterung
ins Netz, ist man plötzlich sehr besorgt: Flüchtet sie aus der
Wirklichkeit? Droht Vereinsamung? Handelt es sich um Sucht?
Das Verschlingen von Romanen gilt in unserer Kultur als sinnvolle
oder zumindest unschädliche Tätigkeit, während die Beschäftigung
mit dem Internet zum belanglosen wenn nicht gefährlichen Zeitvertreib
herabgewürdigt wird. Dabei bietet gerade das Netz vielfältige
neue Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten,
ihre Gedanken und Gefühle kennenzulernen, Freundschaften zu knüpfen
und sich Gemeinschaften anzuschließen.
Im Internet-Enthusiasmus offenbart sich in der Regel keine pathologische
Technik-Sucht, sondern die ganz normale "Sucht" nach all dem,
was uns inspiriert, erfüllt und erfreut und wovon wir gerne "mehr"
haben möchten. Dass wir es dank unserer Mitmenschen im Netz oft
auch finden können - das ist der Technologie nun wirklich nicht
vorzuwerfen!
Dr. Nicola Döring ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen
Institut der Universität Heidelberg, Abteilung Entwicklungs- und
Pädagogische Psychologie. Sehr empfehlenswert ist ihr Buch
"Sozialpsychologie des Internet", das 1999 im Hogrefe-Verlag erschienen ist.
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