Lernstörungen aus psychoanalytischer Sicht
von Marietta Zeug
Mögliche Ursachen von Lernstörungen
Lernstörungen können die unterschiedlichsten Gründe haben und
daher auch verschiedene Behandlung erfordern. Einleitend möchte
ich als Überblick die wichtigsten Möglichkeiten, die als Ursachen
für mangelnde Schulleistungen in Frage kommen, erwähnen:
es kann sich um angeborene organische Defekte, erworbene organische
Defekte oder Ent-wicklungsrückstände, Vernachlässigung und mangelnde
Förderung, aktuelle Ereignisse im Leben des Kindes oder psychogene
unbewußte Konflikte, die entweder aktuell sind oder aus der Vergangenheit
rühren, handeln.
Dieser Beitrag soll zeigen, daß ein Kind unter Umständen auch
deswegen Therapie braucht, weil es "nicht lernt", oder seine Eltern
beraten werden sollten, auch wenn die Familiensituation insgesamt
weniger spektakulär ist als die so vieler anderer Kinder, die
mißhandelt oder mißbraucht werden.
Anna Freud hat beschrieben, welch wichtiger Bereich der Persönlichkeit
die Arbeits- und Lernfähigkeit eines Menschen ist und wie sehr
die spätere Arbeitsfähigkeit von den gelungenen Sublimierungen
in den frühen Entwicklungsphasen abhängt. Wir würden viel mehr
Langzeitstudien benötigen, um beweisen zu können, daß die Therapie
der Lernhemmungen eine wichtige Prophylaxe der psychischen Gesundheit
darstellt. So bleibt uns nur die Argumentation mit dem gesunden
Menschenverstand, der uns sagt, daß Erfolg in der Schule einen
wichtigen Schritt zur Integration in die Gesellschaft darstellt.
Sigmund Freud beschreibt die Kulturentwicklung als ein Resultat
der Sublimierung der Triebe in höhere psychische Tätigkeiten wie
z.B. wissenschaftliche, künstlerische und ideologische. Dabei
geht es ihm vor allem um die Sublimierung der Aggression in Arbeit
im weitesten Sinn. Was für die Kulturentwicklung im ganzen gilt,
gilt auch für die individuelle Entwicklung des einzelnen Menschen
und die Lernfähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die
kulturelle Integration.
Umfassende Diagnostik besonders wichtig
Die herkömmliche deskriptive Diagnostik kann zwar Symptome beschreiben
und die verschiedenen Störungen in Kategorien ordnen und zusammenfassen,
liefert aber keine Möglichkeit, die Gesamtpersönlichkeit des Kindes,
das innerpsychische Wechselspiel seiner verschiedenen Persönlichkeitsanteile
und seine Interaktionen mit seiner Umwelt zu begreifen. Es bedarf
psychoanalytischen Wissens und einer gewissen Distanz zum erlebten
Eindruck von der Familie, um nicht bei "diagnostischen" Zuschreibungen
steckenzubleiben, die bereits von Eltern und Lehrern gemacht wurden.
Jeder Mensch versucht das Problem, weswegen er zur Beratung kommt,
vorher selbst zu erklären und zu lösen.
Wurden früher die Kinder als dumm oder faul bezeichnet, so sind
es jetzt oft eher die Eltern oder Lehrer, die als übermäßig ehrgeizig,
überfordernd oder verständnislos bezeichnet werden. Bei solchen
Erklärungsversuchen handelt es sich eher um Schuldzuweisungen,
die mit dem jeweiligen Zeitgeist konform gehen, als um psychoanalytisches
Denken.
Psychoanalytisch zu denken bedeutet, daß man alle Aspekte der
Persönlichkeit des Kindes verstehen möchte, nicht nur die, die
als Probleme angeboten werden. Das heißt, daß wir auch im Falle
der Lernstörungen nicht nur die Ichfunktionen (wie Gedächtnis,
Realitätsprüfung, synthetische Funktion, logisches Denken, Sinneswahrnehmungen,
Steuerung der Motorik) und die Intelligenz des Kindes beurteilen
wollen. Wir wollen auch sein Gewissen und seine Auffassung von
Leistung, seine Beziehungen zu Menschen inner- und außerhalb der
Familie (Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde, Lehrer etc.)
verstehen. Wir wollen wissen, auf welchem Niveau das Kind Lust
und Befriedigung erleben kann und ob die narzißtische Besetzung
seines Körpers und dessen Tätigkeiten ausreichend ist. Wir sollten
verstehen, welchen Einfluß die Umwelt hat. Auch über das Verhalten
der Umwelt dem Kind gegenüber sowie die wichtigsten Identifikationen
des Kindes mit Personen aus seiner Umwelt sollten wir kennen.
Mögliche Maßnahmen gegen Lernstörungen
Hat ein Kind Probleme mit einem Lehrer oder anderen Kindern in
der Klasse, helfen Veränderungen wie Klassen- oder Schulwechsel.
Manche Lehrer kommen mit einem bestimmten Kind nicht gut zurecht
und das Kind reagiert mit Enttäuschung und verliert die Motivation
zu lernen. Manche Kinder mögen einen bestimmten Lehrer nicht und
rebellieren, sind aber bei anderen Lehrern willig und interessiert
Gelegentlich gerät ein Kind in einer Klasse in eine Außenseiterposition,
kann aber mit anderen Kindern gut kooperieren und wird von einer
neuen Klasse integriert.
Manchmal genügt es auch, überängstliche Eltern dahingehend zu
beraten, daß sie ihr Kind weniger kontrollieren und so den Machtkampf
um die Erledigung der Hausaufgaben zu beenden. Das gelingt vor
allem dann, wenn Eltern über die beim Test festgestellte gute
Begabung ihres Kindes erleichtert sind und gelegentliche Mißerfolge
weniger tragisch nehmen.
Wann immer Veränderungen in der Schulrealität des Kindes zu deutlich
besserem Lernverhalten führen, wissen wir zumindest im nachhinein,
daß es sich bei dem Problem nicht um mangelnde Intelligenz oder
neurotische Lernkonflikte gehandelt haben kann.
Lernschwierigkeiten durch Hemmungen
Bei nicht wenigen Kindern mit Lernschwierigkeiten können wir spezifische
Hemmungen feststellen, die das Resultat eines neurotischen Konflikts
sind. Solche eng umschriebenen Hemmungen bestimmter Ich-Funktionen
werden leicht übersehen. Doch in Langzeittherapien oder Psychoanalysen
mit älteren Kindern oder Erwachsenen stellt sich oft im Nachhinein
heraus, daß Hemmungen eine erfolglose Schullaufbahn bewirkten
und zu sekundären Problemen geführt hatten. Wachsende Wissenslücken
sind später nur schwer aufzuholen, Lernunwilligkeit und ein schlechtes
Selbstwertgefühl sind häufige sekundäre Begleiterscheinungen.
Manchmal entwickeln Kinder Charakterzüge oder Verhaltensweisen,
die ursprünglich den Sinn hatten, das Initialsymptom der Hemmung
in einem bestimmten Bereich abzuwehren. Ich denke da an den "Klassenkasperl"
der sich auf diese Art um Anerkennung bemüht oder aber "Traummännlein"
und Träumerinnen. die sich ins Land der Phantasie "wegbeamen"
um ihre Schwierigkeiten selbst nicht bemerken zu müssen und sich
so ungewollt weitere Probleme einhandeln.
Lernstörungen durch "zuviel Wissen"
Kinder fürchten auch, die Liebe der Eltern zu verlieren, wenn
sie wissen, was sie in den Augen der Eltern nicht wissen sollen.
Scheinbare Dummheit gibt Kindern Gelegenheit, zu sehen, hören
und beobachten, was sie interessiert, solange niemand vermutet,
sie könnten es verstehen. Eine der häufigsten Bemerkungen die
Eltern über ihre Kinder machen, ist ja, daß sie noch viel zu klein
seien, um etwas zu verstehen. Oft belügen Eltern ihre Kinder,
in der besten Absicht sie zu schützen und ihnen die angeblich
unschuldige Kindheit zu bewahren.
Viele Erwachsene geben den Kindern auch falsche oder emotional
unverständliche Informationen. Es muß sich dabei nicht immer um
die Fabel vom Storch handeln, auch das Verschweigen von wichtigen
Ereignissen in der Familie wie Krankheiten, Tod, Alkoholismus,
oder wer die leiblichen Eltern sind, falls das Kind adoptiert
wurde, führt dazu, daß es Familiengeheimnisse gibt. Auch der von
Eltern forciert geforderte Glaube an das Christkind oder den Nikolo
wirkt auf Kinder so, als ob man ihnen verbieten würde das zu wissen,
was sie längst durch unbemerktes Zuhören bei Telefonaten oder
Gesprächen Erwachsener in Erfahrung gebracht haben.
So wird manches Wissen des Kindes verbotenes Wissen und damit
oft unbewußt mit sexuellen Geheimnissen in Zusammenhang gebracht.
Fragen dürfen dann nicht mehr gestellt werden und der insgeheim
Wissende glaubt, den Verlust der Liebe der Eltern zu riskieren,
wenn er sein Wissen nutzt und doch weitere Fragen stellt Darf
ein Kind zuhause nichts fragen, beobachten und bemerken, so wird
es vielleicht auch in der Schule schlecht "mitarbeiten" können
und wenig Interesse aufbringen.
Zusammenfassung
Mit all dem oben Ausgeführten wollte ich deutlich machen, warum
ich ein psychoanalytisches Verständnis der Lernprobleme für so
wichtig ist für unsere Arbeit halte. Nur wenn wir das Problem
des Kindes richtig verstehen, können wir auch sinnvolle Strategien
zur Lösung finden.
Wenn es sich um neurotische unbewußte Probleme handelt, werden
Trainingsprogramme wenig hilfreich sein, da das Kind eben psychisch
"blockiert" ist. Wir können ihm weiteren sinnlosen Leistungsdruck
ersparen, indem wir eine Therapie empfehlen, die die Hemmungen
löst und die Arbeitsfähigkeit wiederherstellt. Besonders nachdrücklich
wird die Therapieempfehlung dann ausfallen, wenn die bestehende
Lernschwierigkeit nur eins von mehreren Symptomen ist und das
Kind an einer Neurose leidet.
Dr. Marietta Zeug ist Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin (WPV, IPV) und
Kinderpsychoanalytikerin in freier Praxis. Ihr obiger Artikel
ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrages im Buch
"Spielerische Lösungen - das Kind als Mittelpunkt psychotherapeutischen
Denkens", herausgegeben von Elisabeth Brainin und Gerald Kral.
Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung
auf unserer Homepage.