Magersucht: Betroffene werden immer jünger
Sogar Zehnjährige müssen wegen Magersucht behandelt werden.
Eßstörungen werden noch immer zu wenig ernst genommen.
Eingefallene Wangen, schmal, blaß, schwächlich, nervös und fahrig -
einen Teller Suppe möchte man einem Mädchen, das so aussieht, am
liebsten hinstellen. Es wird aber kaum etwas davon zu sich nehmen.
Denn Magersucht (Anorexie) heißt, nicht mehr ohne Schuldgefühle
essen zu können - egal, was die Waage anzeigt.
Solche Eßstörungen sind hauptsächlich bei 15- bis 20jährigen
zu finden. In 95 Prozent der Fälle sind es laut Univ.-Prof. Dr. Martina de Zwaan
(AKH Wien) Mädchen bzw. Frauen. Rund 2500 behandlungsbedürftige
Fälle gibt es laut Expertenschätzung in Österreich. Der Trend geht
zu immer jüngeren Mädchen, zu Kindern.
"Sogar Zehnjährige müssen wegen Anorexie behandelt werden", berichtet der
Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Ernst Berger (Neurologisches Krankenhaus
Wien-Rosenhügel).
Nicht nur das: Eßstörungen nehmen allgemein zu. "1997 mußte um ein
Drittel mehr Frauen und Mädchen deshalb in Spitäler eingeliefert werden",
erzählt Dr. BeateWimmer-Puchinger, Universitätsprofessorin und Leiterin des
Ludwig Boltzmann-Instituts für
Gesundheitsforschung in Wien, "und jedes zweite Mädchen mit 15 hat
schon einen Diätversuch hinter sich". Österreich ist da kein Sonderfall. WHO-Statistiken
zeigen in den meisten Industrieländern denselben Trend.
Eßstörungen sind häufig Ausdruck eines schweren seelischen Problems.
Die Behandlung ist der nächste Punkt, der Medizinern Sorge bereitet: Betroffene kommen nach wie
vor zu spät in ärztliche Obhut. Nach zwei Jahren ist die Wahrscheinlichkeit groß,
daß die Eßstärung chronisch wird, so die Experten, und das verringert die Aussichten
auf Heilung.
Hauptursache für das "Verschweigen" der Krankheit dürfte sein, daß
Eßstörungen noch immer zu wenig ernst genommen werden. "Wenn es zu einem
Kontrollverlust kommt, sind Eßstärungen immer Ausdruck eines schweren psychischen
Problems", bekräftigt Berger. Und das hat
meist mit der Suche nach der eigenen Identität beim
Heranwachsen zu tun. Wenn jeder Bissen, jede Wurstsemmel heftigste
Schuldgefühle ausläst, kann nicht mehr die Rede von "Launen" oder
"Zickigkeit" sein. Die Betroffenen brauchen die Unterstützung
psychologisch geschulter Experten und Psychotherapeuten. "Mit Ernährungsberatung
läßt sich hier nichts mehr ausrichten", betont Berger.
Wo es fachkundige Hilfe bei Eßstörungen gibt, erfährt man bei
der nächsten Einrichtung für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder
für Heilpädagogik.
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