Schon Kleinkinder werden mit Psychopharmaka ruhig gestellt
Sammelklage gegen Pharmakonzern Novartis
Eine neue Studie ergab, dass bereits zwei- bis vierjährige Kinder
in den USA mit Psychopharmaka ruhig gestellt werden. Die Medikamente,
allen voran Ritalin, eine Art Amphetamin, werden besonders dafür
verwendet das "Zappel-Philipp-Syndrom" zu verhindern. Der Schweizer
Pharmariese
Novartis sieht sich in diesem
Zusammenhang vor einer Sammelklage, da die Beschreibung der Nebenwirkungen
des Medikaments mangelhaft sei. Der Pharmakonzern habe außerdem
ein Krankheitsbild erfunden, um das Medikament vertreiben zu können.
1991 wurden in den USA nur vier von 1.000 Kindern mit diesen Medikamenten
behandelt, 1995 betrug die Zahl bereits zwölf. Die Medikamente
werden vor allem gegen ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder),
das ist Hyperaktivität gebündelt mit Konzentrationsschwäche, verabreicht.
Aber auch der Einsatz anderer Psychopharmaka stieg im Zeitraum
zwischen 1991 und 1995 auf das Dreifache. "Das Medikament Ritalin
wird in der Altersgruppe ab dem 6. Lebensjahr in Österreich verschrieben",
sagte Gerfried Nell, medizinischer Leiter von Novartis Austria.
Zwischen zwei- und vierhundert Kinder bekommen pro Jahr in Österreich
dieses Medikament, so Nell. Eine Verabreichung an Kinder unter
sechs Jahren sehe der Beipackzettel jedoch nicht vor.
"Einige führende Kinderpsychiater- und Psychologen haben sich
dieses Medikament gewünscht, da Ritalin am besten durch klinische
Studien dokumentiert ist", so Nell. Das Arzneimittel könne jedoch
nicht so einfach von jedem Arzt verschrieben werden, da es unter
die Suchtgiftverordnung falle. Das ADHD sei jedoch eine ernstzunehmende
Erkrankung, die mit dem Medikament, das Hirnanteile stimuliert,
behandelt werden könne. Das Medikament allein könne jedoch nicht
zum Erfolg führen, so Nell.
Auf die Frage, ob auch in Österreich Kinder mit Psychopharmaka
behandelt werden, meint Heiner Bartuska vom Psychiatrischen Krankenhaus
Baumgartner Höhe in Wien zu pressetext.austria "Ich bin ziemlich
sicher, dass es zu solchen Fehlverschreibungen kommt. Der Umgang
mit solchen Präparaten ist oft zu leichtfertig", so der Facharzt.
Seelische Problemlösungen können mit solchen Medikamenten aber
niemals erreicht werden, das gelte auch für Erwachsene. "Das Wesen
der Psychopharmaka an und für sich ist zweckentfremdet, da es
lediglich auf eine dauerhafte Unterdrückung der Symptome abzielt,
aber niemals das Problem selbst lösen kann", so Bartuska. Solche
Medikamente ersetzen keinen Psychiater. "Jedes Jahr kommen neue,
noch bessere Arzneimittel auf den Markt, die als Wundermittel
propagiert werden", so der Psychiater.
Bei Kindern seien solche Behandlungen meistens Fehl am Platz,
ist auch Joseph Coyle von der
Harvard Medical School in Boston überzeugt. "Eine psychische
Erkrankung bei Kindern im
Vorschulalter zu diagnostizieren ist äußerst schwierig, da bis
zum vierten Lebensjahr gewaltige Veränderungen im Gehirn stattfinden",
so der Forscher. In Österreich stehe man der Behandlung mit Medikamenten
eher zurückhaltend gegenüber.
Unser Kommentar: Heiner Bartuskas Meinung kann nur bekräftigt werden. Es kann
auch nicht oft genug betont werden, wie wichtig eine sorgfältige
diagnostische Abklärung von Verhaltensauffälligkeiten ist, auch
mit Hilfe psychologischer Tests. Bei weitem nicht jedes Kind,
das - in manchen Situationen - "hyperaktives" Verhalten zeigt,
leidet an einem Hyperaktivitätssyndrom, das medikamentös behandelt
werden muß, obwohl es natürlich auch solche Kinder gibt. Kindliches
Verhalten, das wie Hyperaktivität im Klinischen Sinn ausschaut,
kann sehr viele verschiedene Ursachen haben, die auch rein psychodynamisch
sein können und daher psychotherapeutisch zu behandeln sind. Nocheinmal:
Nur eine sorgfältige diagnostische Abklärung, auch der psychischen
Situation eines Kindes, kann Klarheit über die Ursachen des zu
beobachtenden "hyperaktiven" Verhaltens und damit auch Klarheit
über die Behandlungsmethode der Wahl schaffen.