Playstation Gehirn
Über den Zusammenhang von kindlichem Spiel und Gehirnentwicklung
von Goedart Palm
Betrachtet man das Spiel von Kindern, könnte man verleitet sein,
darin nicht viel mehr zu sehen als sorgloses Verhalten, das Ausagieren
überschüssiger Energien, bevor der "Ernst des Lebens" mit auch
in Erlebnisgesellschaften eher geringen Spielanteilen beginnt.
Diese Beobachtung relativiert sich zumindest bei Tierkindern,
wenn man etwa beobachtet, dass die Todesursache junger Pelzseehunde
zu achtzig Prozent darin liegt, dass sie während ihrer Spiele
feindliche Räuber nicht rechtzeitig wahrnehmen. Allein der Energieverbrauch,
der bei Tier-, aber auch Menschenkindern für das Spiel aufgewendet
wird, gibt Evolutionsbiologen erheblich zu denken. Spielende Jungtiere
verbrauchen 2 bis 3 Prozent ihres Energiehaushalts damit herumzutollen
und bei Kindern nähert sich der Spielanteil gar auf bis zu 15
Prozent ihres gesamten Energieverbrauchs.
Evolutionsbiologische Spieltheorien
Für Evolutionsbiologen sind schon zwei oder drei Prozent Energieaufwand
für ein Verhalten ein erklärungsbedürftiger Tatbestand, wie John
Byers von der "University of Idaho" feststellt, sodass es gute
Gründe geben muss, sich einer so gefährlichen und energieaufwändigen
Aktivität wie dem Spiel hinzugeben. Zwar glaubt kein Forscher
mehr wie früher, dass das Spiel nicht viel mehr als eine Art entwicklungsbedingter
"Schluckauf" sei, aber die zahlreichen Theorien zur Deutung des
Phänomens "Spielen" haben bislang nicht wirklich überzeugt. Nach
der letzten, vielleicht kühnsten These von Evolutionsbiologen
und Neurowissenschaftlern soll das Spiel die Funktion haben, größere
bzw. besser konnektierte Gehirne zu ermöglichen. Kurzum: Spielen
macht intelligent.
Eine der populärsten Spieltheorien lautete dagegen bisher, dass
Spiele Juvenilen helfen, die Fähigkeiten zu entwickeln, die benötigt
werden, um zu jagen, sich zu paaren, sich zu sozialisieren, kurzum:
reif für das Erwachsenenleben zu werden. Einer anderen, letztlich
verwandten Theorie zufolge erlaubt das Spiel jungen Tieren die
Kondition und das Durchhaltevermögen zu entwickeln, die sie als
erwachsene Tiere brauchen.
Die "Trainingstheorie", nach der also Ausdauer und Muskelaufbau
im Spiel gefördert werden, krankt daran, dass sich eben kein permanenter
Nutzen aus den fröhlichen Spielen der Jugend einstellt. Auch die
Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen garantiert bekanntlich
noch nicht, später kein couch-potatoe zu werden. Nach Byers verlieren
sich mit dem Ende des Trainings im Erwachsenenalter wieder die
Gewinne an Ausdauer und Kraft, die im juvenilen Spiel entstanden
sind. Wäre es also allein der Sinn des Spiels, in Form zu kommen,
wäre es nach Byers auch zu erwarten, dass die Relation zwischen
Alter und Spielintensität erheblich variiert. Je nach Spezies
würde die beste Zeit für das Spiel davon abhängen, wann es besonders
vorteilhaft wäre, in "Form" zu kommen. Aber genau das ist nicht
zu beobachten. Speziesübergreifend erreicht das Spielen seinen
Höhepunkt nach der Hälfte der Säuglingsphase, um dann auf den
niedrigsten Punkt nach der Entwöhnung zu fallen.
Auch die Hypothese der Trainierens von Fähigkeiten, die für Sozialverhalten
und Überleben relevant sind, hat ihre Probleme. Zwar erscheint
es auf den ersten Blick so, dass spielende Tiere die komplexen
Verhaltensweisen, die sie als Erwachsene benötigen, einüben. Aber
diese These könnte gleichfalls zu simpel sein, um dem ontogenetischen
Sinn des Spiels auf die Spur zu kommen. Verhaltensökologe Tim
Caro von der "University of California" verglich das räuberische
Spiel von Kätzchen und ihr Raubverhalten als erwachsene Tiere.
Dabei stellte sich heraus, dass spezifisches Spielverhalten keinen
signifikanten Einfluss auf späteren Jagdqualitäten aufwies.
In einer anderen Studie befasste sich der Neurowissenschaftler
Sergio Pellis von der kanadischen "University of Lethbridge" in
Alberta mit dem beliebtesten sozialen Spiel bei Nagetieren: dem
Kampfspiel. Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten zwischen dem Spielverhalten
und dem kämpferischen Verhalten erwachsener Tiere konnte auch
Pellis keine zwingende Verbindung zwischen typischen Spielmanövern
und Erwachsenentaktiken erkennen: Für Ratten und vermutlich auch
andere Nager scheint der spielerische Kampf gerade nicht die Funktion
zu haben, sexuelle oder aggressive Verhaltensweisen vorzubereiten.
Die Abenteuer im Kopf
Wo liegt also der tiefe Sinn des juvenilen Spiels?
Im Spiel der Tiere erfahren wir eine reine Form der Ästhetik,
die sich wissenschaftlicher Bestimmung entzieht, meinte noch 1981
der Tierverhaltensforscher Robert Fagen. John Byers ließ sich
bei dieser Frage dagegen davon leiten, dass das Spielen im Wesentlichen
auf die intelligentesten Tiere beschränkt ist. Spielverhalten
zeigt sich bei Säugetieren und lediglich noch bei einigen Vogelarten
mit größerem Gehirn wie beispielsweise Elstern oder Krähen. Byers
betrachtete insbesondere das Verhalten und die Gehirngröße verschiedener
Beuteltiere. Er fand dabei heraus, dass die spielfreudige Beutelmaus
im Vergleich zu ihrer Körpergröße ein größeres Gehirn hat als
ihre faulere Verwandtschaft wie etwa der Koala-Bär.
Vor kurzem haben auch Sergio Pellis und Andrew Iwaniuk von der
"Monash University" in Melbourne gemeinsam versucht nachzuweisen,
dass bei Primaten Verhältnis zwischen Gehirnwachstum in der Zeit
zwischen Geburt und Reife und der quantifizierbaren Spiellust
zu beobachten ist. Bereits vorher hatten Pellis, Iwaniuk und der
Biologe John Nelson beobachtet, dass generell bei Säugetieren
Gehirngröße und Spieltrieb im Verhältnis stehen. In der bislang
größten komparativen Studie juvenilen Spiels führten Messungen
bei fünfzehn verschiedenen Ordnungen von Säugetieren - unter anderem
Hunden, Delfinen, Nagern und Beuteltieren - zu dem Ergebnis, dass
größere Gehirne im Verhältnis zur Körpergröße mit einem größeren
Variationsreichtum von Spielen verbunden sind. Entsprechend sind
"kleinhirnige" Wesen weniger spielfreudig. Byers führt das darauf
zurück, dass große Gehirne weniger "festverdrahtet" sind und sensibler
auf Entwicklungstimuli reagieren als kleinere Hirne. Danach benötigten
"großhirnige" Tiere einfach mehr Spiel, um ihr Hirn erfolgreich
für das Erwachsenenalter zu formen.
Auch Evolutionsneurobiologe Robert Barton von der "University
of Durham" erkennt einen Zusammenhang von Spiel und Lernen und
verweist insbesondere auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen für
Großhirnrinde und Kleinhirn während der Entwicklungsphase. Nach
John Byers geben auch die aufs Spiel verwendeten Zeitanteile einen
entscheidenden Aufschluss: Verfolgt man die Zeitkontingente, die
Jungtiere während ihrer gesamten Entwicklungsphase täglich für
ihr Spiel aufwenden, entsteht in der grafischen Darstellung ein
umgekehrte U-förmige Kurve. Das wiederum ist aber die klassische
Signatur entwicklungsensibler Phasen, wenn in einem vorübergehenden
Entwicklungsfenster das Gehirn in einer Weise geprägt werden kann,
wie es später nicht mehr leicht möglich sein wird. Als Paradebeispiel
gilt etwa der Zeitraum, in dem Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen
mit relativer Leichtigkeit eine oder mehrere Sprachen erlernen
können.
Spielend lernen
John Byers vermutet einen Zusammenhang der "Spielkurven" mit der
Hirnentwicklungsphase, die als "terminal synaptogenesis" bekannt
ist: In vielen Bereichen des Gehirns werden Synapsen überproduziert
und dann findet ein spezifische Auslese statt. Aktive Synapsen
werden erhalten, während weniger aktive zerstört werden. Um das
zu überprüfen, schloss sich Byers mit dem Biologen Curt Walker
vom "Dixie State College" in St.George/Utah zusammen, um festzustellen,
dass die Verteilung von Spielintensität und Lebensalter bei Katzen,
Ratten und Mäusen wiederum mit der Entwicklung des Kleinhirns
korrelierte. Unter anderem kontrolliert das Cerebellum (Kleinhirn)
die motorischen Fähigkeiten des "Eye Tracking", Pirschens, Angreifens
sowie des Fluchtverhaltens. Bei allen drei Arten war das Spiel
besonders intensiv, wenn die Synapsenbildung im Kleinhirn ihren
Höhepunkt erreichte. Evolutionsanthropologe Kerrie Lewis vom "University
College London" weist darauf hin dass neue Hirnzellen selten nach
der Geburt produziert werden. Synapsenbildung ist der wahrscheinlichste
Weg, auf dem das Spiel die Gehirnentwicklung formt. Aber auch
andere Mechanismen könnten daran beteiligt sein wie die "Myelination"
bzw. Markscheidenbildung, die im dritten Embryonalmonat beginnt
und im vierten Lebensjahr endet. Myelin ist eine fetthaltige Isolationshülle,
die - ähnlich wie ein Isolierband ein Elektrokabel -zahlreiche
Nerven spiralförmig umwickelt, um ihre Fähigkeit zu verbessern,
elektrische Signale zu leiten. Wie auch immer formt nach Byers
das Spiel die Gesamtarchitektur des Hirns eher, als dass besondere
Schaltungen mit spezifischen Aktivitäten vorprogrammiert wären.
Marc Bekoff von der "University of Colorado" fand zudem heraus,
dass das Spielverhalten von jungen Koyoten markant variabler und
unvorhersagbarer war als das Verhalten erwachsener Tiere. Auf
diese Weise werden mehr differente Gehirnregionen aktiviert, vermutet
er. Nach Bekoff erhält das Gehirn in seiner Eintwicklungsphase
viele verschiedene Arten von Stimulation. Nicht nur ist das Gehirn
bei den Spielen stärker beteiligt als bisher beobachtet wurde,
sondern das Spiel aktiviert zudem auch höhere kognitive Prozesse.
Bekoff verweist auf die komplexen Einschätzungen von Spielkameraden,
die Entstehung von sozialer Reziprozität und den Gebrauch spezifischer
Signale und Regeln, um ein Gehirn zu kreieren, dass größere Verhaltensflexibilität
und verbesserte Lernpotenziale für spätere Zeiten besitzt. Letztlich
geht es also um eine höhere Konnektierung des Hirns. Neuropsychologe
Stephen Siviy vom "Gettysburg College" in Pennsylvania untersuchte
zudem Proteinprozesse im Hirn, die für die Stimulation und das
Wachstum von Nervenzellen maßgeblich sind. Erstaunlich war für
ihn das Ausmaß der Aktivierung während des Spiels. Im Spiel werden
gleichsam auch solche "Birnen" in den Gehirnregionen angeknipst,
die normalerweise nicht konnektiert sind, sodass hier die Kreativität
gesteigert werde.
Spiel im Dienste der Entwicklung
So könnten alle diese Studien Aufschluss darüber geben, dass das
vermeintlich zweckfreie Spiel, "der Kinder lustige Spiele" (Astrid
Lindgren) funktionale Entwicklungsmomente sind, um Gehirnkapazität-
und funktionen zu steigern. Lewis schließt auch nicht mehr aus,
dass verschiedene Spieltypen an bestimmten Punkten der Evolutionsgeschichte
aufgetreten sind, um bestimmte Gehirnregionen zu entwickeln. Je
größer der Neocortex ist, der unter anderem für soziale Kompetenzen
verantwortlich ist, umso mehr soziale Spiele sind zu beobachten.
Spiel ist mithin nicht gleich Spiel.
Gleichwohl könnten die vorderhand plausiblen Ergebnisse noch nicht
der Weisheit letzter Schluss sein. Wie viele verhaltensorientierte
Studien basieren die Erkenntnisse auf Korrelationen, die andere
Variablen unberücksichtigt lassen könnten, warnt Tim Caro. Es
könnte auch sein, dass Gehirngröße und Spiel wiederum mit Stoffwechselphänomenen
oder noch ganz anderen, bislang unentdeckten Faktoren verknüpft
sind.
Auch die anderen Forscher wollen den Zusammenhang zwischen Spiel
und Gehirn noch nicht als endgültigen Befund ansehen. Siviy hält
die Untersuchungen noch nicht für abgeschlossen, aber für ihn
ist insbesondere die zeitliche Parametrisierung des Spiel während
der Entwicklungsphasen besonders überzeugend. Wenn gespielt wird,
handelt es sich immer zugleich um eine ideale Lernzeit, in der
Hirnschaltungen positiv modifiziert werden können. Attraktiv an
der jetzt vorgelegten Theorie dürfte zudem ihre physiologische
Überprüfbarkeit sein, da beispielsweise die Steigerung der Markscheidenbildung
mit Magnetresonanzbelichtungstechniken relativ leicht nachgewiesen
werden kann.
Kinderspiel und Gesellschaft
Sollte die These durch solche Forschungsreihen weiter gestützt
werden können, könnten die Ergebnisse insbesondere im Blick auf
eine "gehirngerechtere" Kindererziehung relevant sein. Nach Lewis
ist es inzwischen bekannt, dass junge Ratten, die nicht die Gelegenheit
zum Spiel haben, kleinere Großhirnrinden ausbilden und die Fähigkeiten
zu sozialen Verhaltensweisen nicht entwickeln. Solange man mit
Bekoff feststellt, dass das Spiel ein Zeichen für eine gesunde
Entwicklung zeigt, dürfte die Gefahr biologistischer Extrapolationen
auf die komplexen Zusammenhänge zwischen Spiel und menschlichen
Verhaltensweisen nicht allzu groß sein. Bekoff vermutet immerhin
schon jetzt Zusammenhänge von gestörtem Kinderspiel und geistig-seelischen
Erkrankungen wie etwa der Schizophrenie.
Heißt das aber bereits, dass zu wenig Spiel Kreativität und Lernfähigkeit
von normalen Kindern beeinflussen kann? Das weiß bisher niemand
so genau zu beantworten. Solange hier keine validen Ergebnisse
folgen, wird die Wichtigkeit von bestimmten Spielformen für den
Erwachsenen noch nicht zum pädagogischen Allgemeingut kollektiven
Wissens werden. Vielleicht ist ja die Schule, die Kinder schon
früh dem "Ernst des Lebens" unterwirft und das vermeintlich zweckfreie
Spiel oft nur auf den Pausenhof verweist, ein großer pädagogischer
Irrtum. Bekoff gibt zu bedenken, dass die organisierten Spiele,
die Erwachsene Kindern angedeihen lassen - Turn- und Fußballverein
oder etwa die in Amerika von Erwachsenen organisierte "Little
League Baseball" - gar kein gehirnwirksames Verhaltensrepertoire
beinhalten, weil hier Spontaneität von Leistungsdruck verdrängt
werden. Auch der Terror gewisser Formen der Vorschulerziehung,
die schon frühzeitig kindliche Neugier mit elitären Visionen von
Eltern und Erziehern betrügt, dürfte einer Revision zu unterziehen
sein. Neil Postmann hat das in bewährt kulturapokalyptischer Weise
so formuliert:
Das Kinderspiel ist zu einer Hauptbeschäftigung der Erwachsenen
geworden, es ist professionalisiert worden und bildet nicht mehr
eine von der Sphäre der Erwachsenen getrennte Welt für sich.
Mit anderen Worten: Gebt den Kindern ihre Spiele zurück. Sie wissen
schon, was sie tun.
Unser Kommentar: Es ist schon interessant, auf welchen Pfaden man sich wohlbekannten
und jedem vertrauten Verhaltensweisen wie dem kindlichen Spiel
nähern kann...
Anna Freud erkannte das kindliche Spiel als die "via regia" zum
kindlichen Unbewussten, analog zu Sigmund Freuds Formulierung
von den Träumen als "via regia" zum Unbewussten der Erwachsenen.
Bei der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern ist das Spiel
unverzichtbares Ausdrucks- und Kommunikationsmittel.
Entwicklungspsychologen bezeichneten das Spiel der Kinder als
"Probehandeln", durch das wichtige Verhaltensweisen quasi geübt
werden können, aber nicht "im Ernst" und daher auch ohne die möglichen
Konsequenzen des Ernstfalles.
Wie man es auch dreht und wendet, das kindliche Spiel bleibt eine
der faszinierendsten menschlichen Verhaltensweisen.
Literatur zum Thema "Psychologie des kindlichen Spiels":
Ulrich Streeck: Erinnern, Agieren und Inszenieren. Vandenhoeck
und Ruprecht, Göttingen 2000. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Rolf Oerter, Psychologie des Spiels. Beltz 1999. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Wolfgang Einsiedler: Das Spiel der Kinder. Zur Pädagogik und Psychologie
des Kinderspiels. Klinkhardt 1999. Bestellmöglichkeit bei amazon.at
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