Kindererziehung: Nach dem Terror das intensive Gespräch
Wie gehen Kinder mit den Ereignissen des 11. September um?
von Peter Struck
Nach den verheerenden Terroranschlägen auf das World-Trade-Center
und das Pentagon waren viele Eltern bei uns erstaunt, welche
klugen Fragen bereits Vier- und Fünfjährige dazu stellten. Viele
Kinder sind heute in ihrer Entwicklung weiter als Gleichaltrige
vor 25 Jahren. Denn sie sind durch Medien, Reisen, Spielzeug
und Kindergarten mit Informationen nicht nur überflutet worden,
sondern auch recht gut in ihrer Weltbildentwicklung herausgefordert
und gefördert worden. Andererseits gibt es immer mehr Kinder,
die mit erheblichen Zuwendungsdefiziten zurückgeblieben sind.
Ängste hatten aber am 11. September und danach fast alle Kinder,
ob sie nun früh gefördert oder vernachlässigt sind. Sie haben
gespürt, dass das von ihnen auf dem Bildschirm Miterlebte nicht
mehr nur ein zweidimensionales Computerspiel oder ein Action-Film
ist. Sie haben erlebt, dass die Kluft zwischen ihrem Playstation-Weltbild
und der dreidimensionalen wirklichen Welt plötzlich überbrückt
wurde. Die abartige aggressive Spiel- und Märchenwelt, mit der
sie stets ihren Frust abbauen konnten, wurde zur unfassbaren
Realität. Sie wurden durch die zu tödlichen Geschossen verwandelten
Passagierflugzeuge unvermittelt aus dem Schonraum Kindheit in
die Brutalität einer gewaltstrotzenden Erwachsenenwelt gestoßen.
Das machte ihnen Angst, denn plötzlich galt die Regel nicht mehr,
dass die eine Welt fiktiv und die andere real ist.
Dagegen half auch nicht viel, dass so manche Eltern am 11. September
verhindert haben, dass ihr Kind fernsah. Denn den Ernst der Lage
haben sie am Gesicht von Mama und Papa, an der Mimik und Gestik
ihrer Spielgefährten und an den Worten ihrer Kindergärtnerin
oder Lehrerin dennoch genau gespürt. Die allgemein gedrückte
Stimmung auf den Straßen und in den Bussen an den folgenden Tagen,
erreichte auch die Kinder. Sie haben überdies von anderen vernommen,
Osama bin Laden und andere Terroristen würden über Atomwaffen
und biologische Waffen verfügen und könnten jederzeit auch über
Deutschland Viren oder Bakterien abwerfen.
Großer Ernst am Tag danach
Die Grundschullehrerinnen stellten jedenfalls in ihren morgendlichen
Gesprächskreisen am 12. September eine ungewöhnlich ruhige Konzentration,
großen Ernst und viele Ängste bei ihren Schülern fest, die überdies
mehr Zukunftsfragen als sonst stellten. Die Ängste unserer Kinder
können nicht mehr länger verhindert oder beseitigt werden. Wir
müssen es erzieherisch schaffen, dass sie ihre Ängste in ihr
Leben einbauen und dass sie mit ihnen umgehen können. Wir müssen
es schaffen, dass Angst nicht in Panik einmündet, die lähmt und
krank macht, sondern in Sorge, die wachsam macht und deshalb
zu schützen vermag.
Aber mussten wir unseren Kindern nicht schon längst abends von
der Bettkante aus, bei langen Spaziergängen oder auf stundenlangen
Autofahrten sagen, dass die Welt keineswegs heil ist? Mussten
wir ihnen nicht schon immer Hilfe beim Verstehen der Berichte
leisten: Warum Kinder im Sudan verhungern, warum Kinder in Bosnien
und im Kosovo beim Spielen auf Minen treten und dabei verstümmelt
werden, warum katholische Schulanfänger mit ihren Eltern ein
Spießrutenlaufen auf dem Weg zu ihrer Schule durch protestantische
Straßen in Belfast zu bewältigen haben, warum bei Bombenattentaten
im Baskenland auch Kinder sterben, warum Kinder in Palästina
zum Steinewerfen erzogen werden und warum aktuell afghanische
Flüchtlingskinder im Grenzgebiet zu Pakistan in unvorstellbarem
Elend vegetieren? Müssen wir sie nicht schon seit Jahren gegen
Kinderschänder feien und mit Verhaltensalternativen gegen Schulweg-,
Schulbus- und Schulhofgewalt stark und gegen den Drogeneinstieg
immun machen?
Wahrscheinlich sind wir als Kindergärtnerinnen, Eltern und Lehrer
bislang viel zu oft und zu schnell wieder zum Alltag übergegangen,
haben wir das rasche Vergessen und Verdrängen als Methode zum
Schutz unserer Kinder gewählt, statt ihnen aktiv dabei zu helfen,
gut mit Ängsten umgehen und auf Probleme zugehen zu können, sich
stets angemessen entscheiden, wehren, behaupten, durchsetzen
und Nein sagen zu können. Denn wer nicht gelernt hat, wie man
gut aus einem Konflikt herauskommen oder eine Krise überstehen
kann, wer für sinnvolle Auswege aus aktuellen Problemen nicht
gerüstet ist, indem er positive Verhaltensalternativen vorgelebt
bekam und eintrainieren konnte, der neigt dazu, in Gewalt, Sucht,
Angst oder Krankheit auszuweichen.
Wir müssen uns also für unsere Kinder viel mehr Zeit nehmen. Wir
müssen viel mehr mit ihnen reden, denn das Verständnis, das Einordnen
in ein stimmiges Weltbild benötigt vor allem Worte, Gespräche
und relativierende Erklärungen.
Kinder haben Angst vor Krieg, weil sie schon oft am Tonfall und
am Gesicht ihrer Eltern und Großeltern gemerkt haben, wie schlimm
Krieg ist. Sie reagieren allerdings je nach Alter, Intelligenz,
Sensibilität und eigenen Erfahrungen mit Gewalt höchst unterschiedlich
auf die Fernsehbilder aus New York und Washington. Der Bildschirm
filtert zum Glück immer ein Teil des Grauens weg, das das Miterleben
vor Ort anrichtet. Vier- und Fünfjährige sind noch so gebaut,
dass sie mit Katastrophen und Katastrophenmeldungen schneller
fertig werden als Zehn- und Elfjährige, deren Wahrnehmungs- und
Angstkurve durch die Kombination aus weitgehend abgeschlossener
Sinnesentwicklung, einem sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn
und noch sehr geringer Lebenserfahrung am höchsten ist. Sie brauchen
daher besonders viel Zuwendung, einen besonders hohen Wahrheitsgrad
der Erklärungen, lange Gespräche. Diese Gespräche müssen eine
unideologische, also nicht einseitige Ursachenanalyse bieten
und eine besonders hohe Dosis an angstminimierendem Trost.
Rein äußerlich scheint für die meisten Kinder das Miterleben von
Gewalt wieder überwunden zu sein. Aber der Schein trügt; Sie
verdrängen es zunächst, um weiter zu leben, können es aber jederzeit
- beispielsweise in ihren Träumen oder in für sie gefährlichen
Situationen - wieder angstverstärkend aus ihrem Unterbewussten
hervorholen. Ihr bald erneut vorhandenes Lachen ist ihr hilfloser
Versuch, vergessen zu machen, was sie dennoch nicht vergessen
können. Und ihr Spielen von Krieg, von Zerstörung und Wut ist
ihr Bemühen, das Miterlebte durch Handeln zu bewältigen.
Albträume, Weglaufen, Selbstverletzung
Wer Kindern das aufklärende und um eine stimmige Einordnung in
ihr Weltbild bemühte Gespräch verwehrt, belässt ihnen nur die
Bewältigungsmöglichkeiten der Albträume und des zerstörerischen
Handelns im Spiel. Wenn ihnen das aber auch verwehrt ist, bleibt
ihnen nur noch das Sich-Zurückziehen, das Weglaufen, das Krankwerden,
die Selbstverletzung. Im schlimmsten Fall gibt es wie in Palästina
eine aggressivgehemmte Übersprungshandlung in ihre Zukunft, indem
Kinder mit strahlenden Augen geneigt sind, wie der siebenjährige
Palästinenser-Junge zu einem Journalisten zu sagen: "Wenn ich
groß bin, werde ich Selbstmord-Attentäter". Wenn Eltern Angst
vor Gewalt haben, haben Kinder auch Angst, wenn Eltern aber Gewalt
bejubeln, nehmen ihre Kinder das ebenfalls zum Maßstab ihrer
Bewertung.
Auch wenn Kinder in unserer Gesellschaft selten geworden sind,
müssen wir mehr denn je auf ihre Signale achten. Denn wenn Kinder
schreckliche Erlebnisse nicht im Gespräch, über Rollenspiele
und durch aktives Handeln verarbeiten können, sondern sie übergehen,
einkapseln oder unterdrücken, drängen diese immer wieder aus
der Tiefe der Seele nach oben.
Die Holocaust-Forschung hat gezeigt, dass unbewältigte psychische
Traumata über Generationsgrenzen hinaus wirken. Auch Kinder und
Enkel von verfolgten, misshandelten, internierten und umgebrachten
Menschen leiden noch unter scheinbar unerklärlichen Angstattacken,
Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. Nicht nur die
Sünde vermag auf diese Weise zur Erbsünde zu werden, auch das
Opfersein kann zu einem Erb-Opfersein geraten.
Professor Peter Struck ist Erziehungswissenschaftler an der Universität
Hamburg. Im Eichborn Verlag, Frankfurt a.M., ist sein Buch "Wie schütze ich mein Kind vor Gewalt in der Schule?" erschienen - Bestellmöglichkeit bei amazon.com!
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Beitrag
"11. September 2001"
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