Das Internet macht gesund
Wie ein Massenmedium helfen kann den Weg aus der Essstörung zu
finden
Von Caroline Presslich und Gerald Kral
"Medien sind Verführer, sie machen die Konsumenten passiv, beeinflussen
sie, lenken und manipulieren." Viele Kritiker begründen so ihre
Abneigung den Medien gegenüber. Uns interessierte, was es mit
solchen Behauptungen wirklich auf sich hat - unsere Ergebnisse
zeigten die andere Seite der Medaille: Das Internet kann auch
gesund machen.
Ausgangspunkt
Parallel zum stetigen Anwachsen der Internet-Nutzung steigt auch
die Zahl der Informationsdienste auf dem psycho-sozial-medizinischem
Sektor. Neben großen Gesundheitsportalen (z.B.: almeda.de, surfmed.at,
medizin.at, etc.) gibt es ebenso Angebote von Betroffenen für
Betroffene, welche als virtuelle Selbsthilfegruppen zu bestimmten
Themen die Leiden der Internetcommunitys lindern sollen. Beispiele
für derartige Seiten zum Thema Esstörungen sind: "Cinderella"
(selbsthilfe.solution.de/cinderella/) mit einem wöchentlichen
Chat, Informationen und Links zum Thema Essstörungen, das Essstörungsforum
des Anorexie/Bulimie-Servers der Universität Leipzig, die Seite
essprobleme.de mit Informationen, Ernährungshinweisen, Forum und
täglichem Chat (www.essprobleme.de) und "hungrig-online.de".
Der grossen Zahl solcher Selbsthilfeseiten steht ein geringes
Ausmaß an Forschungsaktivitäten und Öffentlichkeitsarbeit gegenüber.
Aufgabe unseres Projektes ist es, den Nutzen des Internet im Bereich
Selbsthilfe zu definieren und Erkenntnisse darüber einer breiten
Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Konzeptidee und Anspruch des Projekts
Untersucht werden sollte, ob bzw. inwieweit den Online-Selbsthilfeangeboten
tatsächlich unterstützender Charakter zugesprochen werden kann.
Danach könnte eine Art Öffentlichkeitsarbeit für moderierte Selbsthilfeforen
im Internet beginnen.
Aus diesem Grund wurde das größte deutschsprachige Online-Forum
für Essstörungen, "hungrig-online?, einer Analyse unterzogen.
Das Forum erfreut sich einer immer grösseren Nachfrage, die Zugriffszahlen
stiegen innerhalb eines Jahres fast um das 30-fache, von ca. 600
auf ca. 17.000 täglich!
Die Analyse erfolgte einerseits durch eine Online-Fragebogenerhebung,
andererseits wurden Beiträge im Forenteil von hungrig-online mit
Hilfe der Tendenzanalyse - einer besonderen Form der Inhaltsanalyse
- hinsichtlich des emotionalen Gehaltes evaluiert.
Umsetzung
Selbsthilfeforen im Internet funktionieren ähnlich wie "herkömmliche?
Selbsthilfegruppen. Erkenntnisse über Selbsthilfegruppen in Online-Communities
im Medium Internet, sind daher auch Erkenntnisse über traditionelle
Selbsthilfegruppen, welche - wie Experten bestätigen - einen wichtigen
Stellenwert bei der Heilung von Essstörungen besitzen.
Der Nutzen ergibt sich nicht nur aus der Bekanntmachung von leicht
zugänglichen Unterstützungsinstrumenten (hier sind die moderierten
online-Foren und Gesundheits-Portale gemeint) - sondern auch durch
die Möglichkeit einer Verbesserung von therapeutischen Maßnahmen
sowie Erkenntnisse über Mechanismen von Selbsthilfegruppen.
Auswirkungen
Die Bekanntmachung der tendentiell positiven Wirkung von moderierten
Selbsthilfeforen soll Menschen mit Essstörungen dazu bringen eben
diese Foren zu besuchen. Die nachweisliche Steigerung der Therapiemotivation
durch den Besuch dieses Forums kann also genutzt werden um den
Heilungsprozeß in Gang zu setzen, oder ihn gar zu beschleunigen.
Weiters sollen Berater und Therapeuten von der positiven Wirkung
informiert werden, um moderierte Foren weiter zu empfehlen, was
wiederum helfen kann, die Therapieerfolge der eigenen Patienten
zu beschleunigen. Nebeneffekt der Erkenntnisse aus unserer Studie
ist die bessere Einschätzbarkeit der Dunkelziffern von unter Essstörungen
leidenden Personen.
Steigerung der Therapiemotivation
Von insgesamt 533 Personen, die die Frage nach der Auswirkung
der Teilnahme bei "hungrig-online" auf ihre Motivation zu einer
Behandlung beantwortet haben (89% der Gesamtstichprobe) gaben
knapp 27% an, dass der Besuch von hungrig-online ihre Therapiemotivation
erhöht hätte, ca. 35% meinten, dass das "vielleicht" der Fall
war und etwa 38% verneinten diese Frage. Die Frage nach Auswirkungen
auf die Therapiemotivation zeigte eine Abhängigkeit von der Art
der angegebenen Essstörung: unter den Mädchen, die angaben, unter
einer Magersucht zu leiden, war der therapiemotivierende Effekt
von hungrig-online tendentiell geringer (n=168; "ja" 22,6%, "nein"
44,0%, "vielleicht" 33,3%) als unter den Mädchen, die angaben,
unter einer Bulimie zu leiden (n=256; "ja" 30,5%, "nein" 30,1%,
"vielleicht" 39,5%).
Für das Jahr 2003 ist die Durchführung einer Nachfolgeuntersuchung
geplant, um die Forschungsergebnisse noch besser absichern zu
können und Hinweise auf mögliche Entwicklungen und Veränderungen
innerhalb der untersuchten community erfassen zu können.
Der obige Beitrag ist die Kurzusammenfassung eines Textes, der
von uns im Herbst 2002 für den "Gesundheitspreis der Stadt Wien"
eingereicht wurde. Wir freuen uns, dass wir mit diesem Projekt
den ersten Preis in der Kategorie "Medien/Öffentlichkeitsarbeit"
gewinnen konnten. Dieser Erfolg ist natürlich auch Ansporn. Derzeit
befindet sich eine Untersuchung über sogenannte "Selbstmordforen"
unmittelbar vor der Realisierung.
Links:
Presseinformation der Stadt Wien über die Verleihung des Gesundheitspreises
2002
Literatur:
Carl Leibl et al.:Wenn die Seele hungert. Essstörungen und was
sich dagegen tun lässt. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Kathrin Seyfahrt: SuperSchlank. Zwischen Traumfigur und Essstörungen.
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Frank Minirth: LiebesHunger. Heilung von Essstörungen. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen
Essstörungen und Selbsthilfe
Vor gefüllten Tellern verhungern
Essverhaltensstörungen: Erste Ergebnisse einer neuen Studie
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