Vor gefüllten Tellern verhungern
In der westlichen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft steigt
die Zahl derer, die sich weigern zu essen. Vor allem unter der
weiblichen Bevölkerung nehmen Essstörungen extrem zu. Doch auch
die Männer "emanzipieren" sich in dieser Hinsicht und sind in
steigendem Maße von ihr betroffen. Von der Magersucht.
von Gabriela Stockklauser
Magersucht ist eine Krankheit, von der man bis vor kurzem noch
glaubte, sie sei ein kurzfristiges Phänomen. Doch in Wahrheit
handelt es sich bei dieser - mitunter tödlichen - Krankheit um
alles andere als bloß um einen "Tick" junger Mädchen, die es den
Models gleichtun wollen. Das lässt sich nicht zuletzt auch an
der Langwierigkeit der Störung erkennen und an den heillos überfüllten
Krankenhaus-Stationen, die auf "Essstörungen" spezialisiert sind.
In der Universitätsklinik Innsbruck gibt es eine solche Station.
Die Abteilung "Psychosomatik V".
Elf Mädchen sitzen dort an einem Vormittag dicht an dicht. Die
Atmosphäre ist bedrückend. Die ausgemergelten Gestalten, die im
Beisein einer Krankenschwester versammelt sind, sagen kein einziges
Wort. Große Augen in tiefen, dunklen Augenhöhlen scheinen ins
Leere zu blicken. Die Apathie der Mädchen wird nur selten unterbrochen,
wenn die Schwester mahnt, die "Sonde" auszutrinken, bevor die
15-minütige Frist vorbei ist. Als ich später mit einem der Mädchen
ins Gespräch komme, erklärt es mir, dass es sich bei dem Getränk
um "Astronautennahrung" handle - ein zähflüssiges Getränk, angereichert
mit Nährstoffen, die den Patientinnen beim Aufbau ihrer physischen
Kräfte helfen soll. Der Name "Sonde" stammt aus Zeiten, als das
Gebräu mit einer Magensonde eingeführt wurde.
Scharfkantige Knochen an den Wangen Mager sind sie allesamt, diese
Mädchen, die oft schon über 20-jährige Frauen sind. Sie wirken
aber nicht wie Frauen, denn sie haben keine Brüste, keine Rundungen.
Das Einzige, was an ihnen hervorsticht, sind die spitzen, scharfkantigen
Knochen an den Wangen, Hüften, Händen . . . Manche wirken alt
und von schwerster Krankheit gezeichnet. Sie sind dem Tode nahe,
diese blutleer erscheinenden Gestalten. Lebewesen, die mit ihren
blauen Lippen, Händen und Füßen nur noch einen Rest von "Leben"
in sich zu tragen scheinen.
Ich setze mich zu dieser traurigen Runde und bin ebenfalls sprachlos.
Die gespenstische Stille wird wieder von den nachdrücklichen Worten
der Schwester unterbrochen: "So, meine Damen, die Zeit ist um,
ich bitte Sie jetzt, die Gläser zu leeren!" - Widerwillig schlucken
sie das milchigweiße geschmacksneutrale Getränk.
Als die Schwester die leergetrunkenen Gläser einsammelt und im
scheinbar endlosen Gang außer "Hörweite" verschwunden ist, vernehme
ich die erste menschliche Regung eines Mädchens, das Conny heißt:
"Wie's mir schon graust vor der Sonde; ich sag's euch, lange trink'
ich sie nimmer; ich möchte jetzt endlich wieder einmal etwas G'scheites
zum Essen!"
"Bekommt ihr nichts als dieses Getränk?" frage ich erstaunt in
die Runde. "Am Anfang, wenn man gewichtsmäßig tief unten ist,
bekommt man nur dieses ,Fresubin'. Die Menge wird langsam gesteigert,
bis die Kalorienmenge von 3150 kcal pro Tag erreicht ist. Dann
trinken wir das ,Zeug' so lange, bis wir zu einem lebenserhaltenden
Gewicht gekommen sind. Erst dann steigen wir auf Normalkost um."
Die Barrieren müssen abgebaut werden
Die Atmosphäre lockert sich ein wenig. Einige der Mädchen schenken
mir ein scheues Lächeln, bei dem sich die Haut - dem Reißen nahe
- über die Backenknochen spannt.
"Warum bekommt ihr eigentlich nicht alles, was euer Herz begehrt,
um wieder zuzunehmen?" Karin sagt spontan: "Der Körper verträgt
am Anfang gar nichts anderes; oft bekommt man sogar von der Sonde
Durchfall. Obwohl da kein einziger Ballaststoff enthalten ist,
sondern nur für den Körper leichtverwertbare Bestandteile. Und
da ist vor allem auch noch der Ekel vor dem Essen, der sich im
Laufe der Jahre des Hungerns entwickelt hat. Die Barrieren, die
vor dem Essen und vor allem Leiblichen aufgebaut wurden, müssen
Schritt für Schritt erst wieder abgebaut werden." Einige Mädchen
verlassen den Tisch: "Wir haben jetzt Therapie!" sagen sie.
Martina erklärt mir, dass jeder regelmäßig in die Therapie eingebunden
wird: "Etwa zwei Mal wöchentlich führt jede von uns Einzelgespräche
mit ihrem Therapeuten. Ein Mal in der Woche gibt es eine Gruppensitzung.
Dazwischen werden Autogenes Training, Ergotherapie und Beschäftigungstherapie
absolviert. Das Programm: halb acht Uhr Frühstück. Zwölf Uhr Mittagessen.
Halb sechs Uhr Abendessen. Dazwischen jeweils um zehn Uhr und
um drei Uhr eine Zwischenmahlzeit. In unserem Fall heißt das:
Sonde! Wer schon ,brav' an Gewicht zugenommen hat, darf auf Normalkost
umsteigen, und überhaupt wird dann das ,Therapieregime' erleichtert."
Das "Therapie-Regime?"
"Naja, es wird hier schon ziemlich streng vorgegangen. Und am
Anfang hast du überhaupt keinen ,Ausgang', musst dich immer innerhalb
des Hauses aufhalten. Wenn das Gewicht konstant steigt, bekommst
du zuerst einmal eine halbe Stunde zum Hinausgehen, und das wird
dann so weit gesteigert, bis man ,freien Ausgang' hat. Zur Essenszeit
muss jeder wieder da sein."
"Apropos Essen. Warum sitzt eigentlich immer eine Schwester bei
euch?" Sandra wird etwas ungehalten: "Man nennt das ,Kontrolltisch';
wenn da keiner säße, würde bestimmt die Hälfte der Mädchen die
Sonde wegschütten. So weit, dass wir freiwillig etwas zu uns nehmen,
sind wir nämlich noch nicht . . .! Außerdem müssen wir in einer
bestimmten Zeit aufgegessen haben. Erst wenn die Ärzte und Schwestern
sehen, dass unser Widerstand gegen das Nicht-Essen gebrochen ist,
dürfen wir ohne das Beisein eines ,Aufsehers' essen!"
Alles drehte sich nur noch ums Nicht-Essen
"Ich verstehe das nicht; was bringt euch dazu, dermaßen zu hungern?"
Conny, deren Vertrauen ich gewonnen zu haben scheine, beginnt
zu erzählen: "Die Magersucht ist eine heimtückische Krankheit.
Das ist nicht so, wie bei einer Grippe, wo du dich irgendwann
einmal infizierst, ein paar Tabletten schluckst, und alles ist
wieder gut. Wie der Name sagt, ist diese Krankheit eine Sucht.
Alles beginnt scheinbar harmlos. Du fühlst dich zu dick, willst
ein paar Kilos abnehmen. Wenn du erfolgreich dabei bist, gibt
dir das einen richtigen ,Kick', und du willst immer mehr abnehmen.
Es entsteht dabei, wie in unserer Zeit allgemein üblich, ein Leistungsprinzip.
Leistung. Leistung und wieder Leistung. Meine Freundinnen haben
mich für meine eiserne Disziplin bewundert, und das hat mich angespornt.
Die Geschichte hat eine fatale Eigendynamik bekommen. Irgendwann
habe ich mich nicht mehr gefreut - über nichts mehr. Alles drehte
sich nur noch ums Nicht-Essen, ums Abnehmen und ums Gewicht. Bald
war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mich 15 Mal am Tag
auf die Waage stellte und jeden Bissen, den ich zu mir nahm, auf
Deka und Gramm abwog, obwohl ich sowieso nur mehr Gemüse gegessen
habe. Vor meinem Klinikaufenthalt hier habe ich mir kaum noch
erlaubt, ein Glas Wasser zu trinken, weil ich Angst hatte, es
könnten Kalorien drinnen sein. Diese Ängste und der Wahn steigern
sich völlig ins Irreale. Dazu kommen noch die Auseinandersetzungen
mit der Umwelt, die total besorgt um dich, aber im Prinzip völlig
hilflos ist. Lange Zeit gesteht man sich selbst nicht ein, dass
etwas nicht stimmt. Wenn es beinahe schon zu spät ist, musst du
aber doch zugeben, dass das, was du tust, nicht normal ist. Sterben
will fast keiner von uns.
Eines Tages entschloss ich mich, in die Klinik zu gehen. Hier
musst du dein Leben umkrempeln. Ein ständiger Widerstreit mit
dir selber. Du musst dir das so vorstellen, wie in einem Zeichentrickfilm
- auf der einen Schulter sitzt ein Engelchen, auf der anderen
ein Teufelchen. Beide versuchen dir etwas einzureden. Vom Kopf
her wüsste ich natürlich, was ich tun müsste, was das Richtige
wäre. Aber vom Wissen zum Tun ist es ein großer Schritt. Vor allem
dann, wenn du schon so lange kämpfst wie ich . . .! Zwölf Jahre
bin ich schon krank, zum fünften Mal in der Klinik. Beim ersten
Mal war ich ein dreiviertel Jahr hier; eine Zeit lang ist es mir
recht gut gegangen, aber dann . . .
Jetzt bin ich wieder seit vier Wochen hier, und es wird immer
schwieriger; man fängt an, sich zu fragen, wozu eigentlich?"
"Essen ist da . . .!" tönt es durch den Korridor. Widerwillig
stehen die Mädchen auf und begeben sich erneut an den ,Kontrolltisch'.
Mir gehen die "zwölf Jahre" nicht aus dem Kopf. Eine lange Zeit
der Selbstkasteiung! Vor allem, wenn ich bedenke, dass es sich
bei den meisten der Magersüchtigen um überdurchschnittlich intelligente
und begabte Mädchen handelt. Schwester Sylvia erklärt mir: "Die
meisten Magersüchtigen wollen etwas Besonderes darstellen. Es
genügt den Mädchen nicht, einfach ,nur' die einzigartige Conny,
Martina oder Petra zu sein. Sie definieren sich schon in jungen
Jahren über außergewöhnliche schulische, sportliche oder sonstige
Erfolge und Leistungen. Sobald es erste Misserfolge gibt oder
aus anderen Gründen nicht mehr möglich ist, sich aus der breiten
Masse hervorzuheben, beginnen sie zu hungern und fallen bald durch
ihre Magerkeit auf!"
Konkurrenzkampf unter den Nicht-Essern
Mein Blick fällt auf eine Wand, an der "Gefühlsbilder" der Patienten
hängen. Im Rahmen der Therapie sollen sie ihre Gefühle auf Papier
ausdrücken. Die dunklen Farben lassen auf nicht allzu positive
Gefühle schließen.
Plötzlich kommt Petra auf mich zu; sie ist schon fertig mit dem
Essen. "Ich habe alles so satt. Früher lag mir viel daran, die
volle halbe Stunde auszunutzen, um die Sonde zu trinken. Es herrscht
eine Art Konkurrenzkampf unter uns Mädchen, wer es diesmal schafft,
die Trinkerei am längsten hinauszuzögern. Aber da mach ich nicht
mehr mit. Trinken muss ich sie sowieso. Und ich mach auch bei
den anderen Spielchen nicht mehr mit. Zum Beispiel das Wassertrinken
vor dem Wiegen. Am Anfang habe ich drei Liter Wasser getrunken,
um das Gewicht hinaufzutreiben und so das Pflegepersonal zu täuschen.
Letzten Endes täuscht du dich bei solchen Aktionen doch immer
nur selbst."
Die Ursachen für die Magersucht liegen tief. Dazu gehört, dass
junge Menschen einfach nicht zurecht kommen, mit der Welt "da
draußen". Magersucht ist auch eine Absage an jedes Trieberleben.
Rund zehn Prozent der Betroffenen sterben an dieser Krankheit.
Petras Augen füllen sich mit Tränen: "Aber ich will nicht mehr;
ich mach da nicht mehr mit. Ich will jetzt gesund werden . . .
wenn nur dieses blöde Essen nicht wäre . . .!"
Unser Kommentar: Obwohl er auch etwas Voyeuristisches hat, haben wir uns entschlossen,
diesen Artikel auf die Seite zu stellen, da er doch einen Einblick
in das Erleben dieser schwer kranken Mädchen erlaubt, das Außenstehenden
in der Regel kaum nachvollziehbar ist. Wir möchten auch auf den
Internationalen Kongress Essstörungen hinweisen, der vom 18. bis
20. Oktober 2001 in Alpbach stattfindet. Zu dieser wissenschaftlichen
Tagung - der größten ihrer Art im deutschsprachigen Raum - sind
außer Fachreferenten auch speziell Betroffene und Angehörige von
Betroffenen zur Teilnahme eingeladen.
Literatur zum Thema Magersucht:
Hilde Bruch: Essstörungen. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch
Verlag, 2000. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
M. Hornbacher: Alice im Hungerland. Leben mit Bulimie und Magersucht.
Ullstein 2001. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
H. Flöss: Dürre Jahre. Haymon, Innsbruck 1998. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
J. Treasure: Gemeinsam die Magersucht besiegen. Ein Leitfaden
für Betroffene, Freunde und Angehörige. Beltz und Gelberg. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
B. Wardetzky: Iss doch endlich mal normal! Hilfen für Angehörige
von eßgestörten Mädchen und Frauen. Kösel, München 1996. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in den Beiträgen:
Magersucht: Betroffene werden immer jünger
Ess-Störungen bei Jugendlichen nehmen zu
Essverhaltensstörungen: Erste Ergebnisse einer neuen Studie
Medien sind mit Schuld an Zunahme von Essstörungen
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