Leselust und Lesefrust
von Birgit Oberwalder
Die Beherrschung von Schreiben und Lesen ist der Schlüssel zum
Erwerb aller nachfolgenden Lernfähigkeiten und weitergehend zur
Beschäftigungsfähigkeit. Die Entwicklung und Erhaltung dieser
Fertigkeit trägt wesentlich zum lebenslangen Lernen im allgemeinen
bei, sowie zur sozialen Eingliederung und nicht zuletzt zur persönlichen
Entwicklung des Individuums.
Dass die Fähigkeit zum Lernen stark von der Lesekompetenz abhängt,
ist unumstritten. Natürlich werden Informationen nicht nur in
schriftlicher Form sondern durchwegs auch in mündlicher Form vermittelt.
Jedoch überwiegt die schriftliche Form des Lernmaterials in seinem
breiten Spektrum bei weitem die mündliche Mitteilung, die oft
nur als Ergänzung dient. Dieses schriftliche Lernmaterial setzt
oft hohe Ansprüche an den Leser und verlangt somit Kompetenz im
Lesevermögen. Gefragt sind weiters komplexere Fertigkeiten, wie
Interpretieren, Bewerten und Reflektieren von Schriftsätzen. Textarten
wie Prosa, Gedichte, grafische Darstellungen und Informationen
in Tabellenform erfordern ebenso eine ausreichend erworbene Lesekompetenz.
Die Konfrontation mit solchen Textformen im Alltag erfordert zudem
ein lebenslanges Lernen und Weiterbilden, sei es durch "learning
by doing" oder fachbetreute Weiterbildung.
Lesen als Indikator für die Qualität des lebenslangen Lernens
Der Bericht über die "Qualitätsindikatoren für das lebenslange
Lernen in Europa" der Europäischen Kommission für Bildung und
Kultur (2000) beschäftigt sich unter anderem mit den Defiziten
in der Lesekompetenz der einzelnen Bevölkerungsgruppen. Verschiedenste
Untersuchungen lieferten Daten über das durchschnittliche Niveau
der Lese- und Schreibfertigkeiten Jugendlicher in den EU-Ländern.
Die Ergebnisse stützen sich auf die jüngsten Daten der PISA-Studie,
die vorwiegend die Gruppe der 15-jährigen Schüler umfasst. Repräsentative
Daten für Erwachsene stehen zur Zeit noch nicht zur Verfügung,
bzw. sind überholt.
Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen starken Handlungsbedarf
auf. So erreichte eine bestimme Anzahl von Schülern und Schülerinnen
nicht einmal die unterste Kompetenzstufe 1 des PISA-Tests. Dort
war gefordert, einfache Leseaufgaben zu lösen, wie zum Beispiel
eine Einzelinformation zu finden, das Hauptthema eines Textes
zu erkennen oder eine einfache Verbindung zu Alltagskenntnissen
zu ziehen. Entspricht die Leistung eines Schülers nur dieser Kompetenzstufe
1 oder liegt darunter, so kann man nicht zwingend von Analphabetismus
sprechen, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass ernste Schwierigkeiten
im Umgang mit schriftlichen Informationen vorliegen - was sich
bei Lernprozessen, die auf schriftlichem Material basieren, gravierend
auswirkt. Hierzu schreibt die OECD: "In den Ländern, in denen
ein hoher Prozentsatz der Schüler unter oder auf Stufe 1 liegen,
müssen sich Eltern, Pädagogen und politische Entscheidungsträger
drüber klar werden, dass ein erheblicher Teil der Schüler und
Schülerinnen keinen ausreichenden Nutzen aus den Bildungsmöglichkeiten
zieht und möglicherweise auch nicht die notwendigen Kenntnisse
und Fähigkeiten erwirbt, um dies während der weiteren Schulzeit
oder im späteren Leben effizient zu tun"
Jugendliche, die über die erste Stufe hinauskommen, weisen zwar
unterschiedliche Leistungen in unterschiedlichen Aufgaben auf,
jedoch kann man allgemein davon ausgehen, das sie insgesamt -
was das Lesen betrifft - zufriedenstellend auf spätere Lernangebote
vorbereitet sind. Das heißt, dass jeder prinzipiell die Voraussetzungen
mitbringt, lebenslanges Lernen zu betreiben. Die Qualität und
der Erfolg hängen dann von den einzelnen Kompetenzstufen ab, die
erreicht werden. In Österreich erreichen 15 % der Jugendlichen
höchstens Kompetenzstufe 1 auf der PISA-Skala für Lesekompetenz.
Das heißt, dass in Österreich ca. jeder sechste Jugendliche nicht
in der Lage ist, einen längeren Text, eine Zeitung oder gar ein
einfaches Buch zu lesen. Von Texten mit Grafiken oder Tabellen
ganz zu schweigen. Jeder fünfte 15-Jährige in der EU teilt dieses
Defizit mit den leseschwachen Jugendlichen in Österreich.
Neue Ziele
Die EU-Vorgabe für die Zukunft lautet hier, dass die Zahl der
Jugendlichen mit Leseschwäche bis 2010 von 20 auf 15,5 Prozent
gesenkt werden soll. Zusätzlich soll die Zahl der frühzeitigen
Schulabbrecher von maximal zehn Prozent angepeilt werden und die
Absolventen-Anzahl von technischen Studien um 15 Prozent erhöht
werden. Ein weiteres Ziel in bezug auf die Erwachsenen ist, dass
12, 5 Prozent der Berufstätigen sich lebenslang weiterbilden sollen.
Fakt ist schlussendlich, dass lebenslanges Lernen, weiterbildende
Schulen, ganz abgesehen von Hochschulabschlüssen für jeden fünften
Schüler in Europa derzeit unrealistisch sind, da diese 20 Prozent
eine große Leseschwäche aufweisen. Hier herrscht besonders hoher
Aufholbedarf.
Maßnahmen
Die Hoffnungen der Bildungsministerin Schmied auf bessere Zahlen
in Österreich sind nicht ganz unberechtigt. Im Vergleich zur EU
stehen die Österreicher noch immer ganz gut da. Der Anteil der
Schüler die lediglich die Pflichtschule abschließen liegt bei
"geringen" 9,1 Prozent und dem gegenüber stehen 85,9 Prozent,
die eine weiter Schule besuchen oder eine Lehre absolvieren. Zusätzlich
können rund 86 Prozent aller 22-Jährigen in Österreich einen mittleren
Abschluss, d.h. Matura, Lehre etc. aufweisen. Eine Verbesserung
der Situation erhofft sich die Bildungsministerin auch durch die
Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen und durch Lehrerfortbildungen.
So bemerkt die Ministerin, dass Lernen auch von Motivation abhängt.
Diese zu fördern soll das Anliegen und die Aufgabe der Europäischen
Gemeinschaft sein, indem sie optimale Voraussetzungen für die
Jugendlichen und auch Erwachsenen schafft.
Quelle: Europäische Kommission
Unser Kommentar: Durch meine langjährige Beschäftigung mit Kindern unterschiedlicher
Alterstufen, aber einheitlicher Unlust/Inkompetenz in Sachen Lesen
weiß ich, dass dieses "Phänomen" auf mehrere, durchaus unterschiedliche
Ursachen zurückzuführen ist: Kinder, die das Lesen nicht oder
nur rudimentär bzw. sehr spät und dann niemals flüssig, geschweige
denn sinnerfassend erlernen, haben in vielen Fällen eine sogenannte
Teilleistungsschwäche, also eine uneinheitliche Entwicklung verschiedener
kognitiver Basisfunktionen sie können z.B. ähnlich klingende
Laute oder ähnlich aussehende Figuren (Buchstaben) nur schwer
unterscheiden. Speziell in Sachen Lesen sind häufig Schwächen
in den Bereichen visuelle Differenzierung (Erkennen von Unterschieden),
visuelles Gedächtnis (Merken von visuell dargebotenen Inhalten)
und Raumorientierung (Lage der Buchstaben im Raum, z.B. b und
d) zu erkennen und durchaus erfolgreich zu therapieren! Meist
werden leseschwache Kinder keine Lesespezialisten oder finden
ihr Lebensglück in der Schriftstellerei, aber durch ein gezieltes
Teilleistungsschwächentraining können sie ihre Lesegeschwindigkeit
und ihr Leseverständnis doch ganz gravierend verbessern.
Barbara Kral/Zentrum Rodaun
Link:
Bericht der Europäischen Kommission, Generaldirektion Bildung
und Kultur, über die Qualitätsindikatoren für das lebenslange
Lernen in Europa. ec.europa.eu/education/policies/lll/life/report/quality/report_de.pdf
Literatur:
Brigitte Sindelar: Mein Kind ist doch nicht dumm! Teilleistungsschwächen
als Ursache von Legasthenie, Leseschwäche, Rechenschwäche. Bestellmöglichkeit bei der Autorin!
Christian Klicpera und Barbara Gasteiger-Klicpera: Psychologie
der Lese- und Schreibschwierigkeiten. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Günther Thome: Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) und Legasthenie.
Eine grundlegende Einführung. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Vera F. Birkenbihl: Stichwort Schule: Trotz Schule lernen. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Beitrag
Jedes 10. Kind leidet an Legasthenie
|