"Lästige Kinder"
Hinter Aggressivität steckt meist ein Hilferuf
Kinder sind lästig. Eltern, Kindergartenpädagogen und Lehrer können
ein Lied davon singen. Allerdings gibt es eine Einschränkung:
"Es sind immer die Erwachsenen, die sagen, das Kind ist lästig.
Das Kind selbst empfindet nicht so", sagte der Psychotherapeut
Helmuth Figdor, Universitätsdozent für psychoanalytische Pädagogik
anlässlich der Enquete zum Thema "Lästige Kinder", die am 11.5.2000
im Wiener Hochholzerhof von den Wiener Kinderfreunden gemeinsam
mit dem Unabhängigen Kinderschutzzentrum Wien abgehalten wurde.
Kinder brauchen Grenzen: So lautet das Schlagwort, das in letzter
Zeit immer mehr Gewicht in der Diskussion über die Erziehung gewinnt.
Das aber der Psychologe Holger Eich, Leiter des Kinderschutzzentrums
Wien, so nicht gelten lassen kann: "Die Idee der ,gesunden Grenze'
kann leicht zur theoretischen Rechtfertigung der g'sunden Watschen
werden."
Seiner Ansicht nach brauchen Kinder keine "aufgepfropften Grenzen",
sondern Verständnis: "In Gesprächen gewinnt man oft den Eindruck,
dass Eltern nicht wissen, was ihr Kind braucht." Schickt sich
der Sprössling z. B. an, die Steckdose mit einer Stricknadel zu
erkunden, muss man ihm natürlich Einhalt gebieten. "Aber allein
damit ist es nicht getan. Es geht darum, das Kind bei seinen Entdeckungen
auch zu begleiten und nicht bloß ,das darfst du nicht' zu sagen."
Einfühlungsvermögen in das Kind ist auch für Figdor ein wesentlicher
Punkt für eine gute Erziehung. Eine gute, denn "die richtige Erziehung
kann es nicht geben." Wichtig sei, auf die Entwicklungsbedürfnisse
der Kinder einzugehen: Liebe, Respekt, das Gefühl geborgen zu
sein. Dass das Kind keine Angst vor Beziehungsverlust haben muss
und einmal so wie Mama und Papa werden will. "Wenn das auf der
Strecke bleibt, dann ist die Erziehung schlecht."
Diese Entwicklungsbedürfnisse sind auch weitgehend unabhängig
von Grenzen. Die ein Kind sowieso überschreitet, z. B. aus Interesse,
wie verschiedene Erwachsene darauf reagieren. Oft werden Kinder
auch erst "lästig", wenn sie in den Kindergarten kommen. "Aus
Sicht des Kindes ist diese Umstellung ja eine Zumutung", sagt
Eich: Von der Mutter verlassen, der Ersatz völlig inadäquat, und
geteilt muss er auch noch werden. "Da ist es nur natürlich, dass
sich Kinder lautstark gebärden, um Aufmerksamkeit zu erlangen."
"Mehr Männer ins Erziehungswesen!" Das war eine Forderung der
Enquete. Doch ob Frauen in der Zwischenzeit das - vor allem den
Buben - schmerzhaft fehlende männliche Element in Familien und
Institutionen ersetzen können/müssen/wollen - darüber war kein
Konsens herbeizuführen. Für Helmuth Fidgor ist das sozusagen ein
Gebot der Stunde. "Nur wenn die Männer zu uns nett sind", erwiderte
hingegen eine Diskutantin unter Applaus des (vorwiegend weiblichen)
Publikums. Schließlich sei es nicht Schuld der Frauen, dass sich
Männer kaum für Erziehungsarbeit interessierten, meinte eine andere.
Positiv aufgenommen wurde Fidgors These, dass es nicht die richtige
Erziehung gebe und die "Verhaltensstörung" ein "genialer Mythos
der Pädagogik", aber keineswegs eine objektive Pathologie sei.
Irmgard Biedermann, Mitarbeiterin in der Erziehungsberatung der
Wiener Kinderfreunde, fasste diesen Punkt so zusammen: "Nicht
die Kinder sind verrückt, sondern die Gesellschaft hat sich verrückt."
Und Kinder störten den "scheinbar reibungslosen Ablauf" eines
Systems, das von unmenschlichem Zeit-, Anpassungs- und Innovationsdruck
geprägt sei. Hinter aggressivem Verhalten stehe oft der unausgesprochene
Hilferuf: "Mir wird das zu viel, mir geht das zu schnell." Einigkeit
herrschte auch über ein anderes Thema: 25 Kinder auf eine Betreuungsperson
im Kindergarten - das sei einfach zu viel.
Schlussendlich bleibt Erziehung aber ein steter Konflikt, wobei
immer mehr Eltern Hilfe und Rat bei Beratungseinrichtungen suchen.
Für die pädagogische Leiterin der Wiener Kinderfreunde, Gundi
Eckhardt, eine erfreuliche Entwicklung: "Wir begrüßen das sehr,
denn durch das rechtzeitige Aufsuchen einer Beratungsstelle können
negative Entwicklungen verhindert werden."
Quellen: Der Standard, Kurier
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem
Artikel "Böse Wichte".