Böse Wichte
Jugendliche werden immer brutaler, sagt die Polizeistatistik.
Stimmt nicht, widersprechen Jugendforscher. Beratungsstellen verzeichnen
jedenfalls steigenden Andrang.
Martina Salomon und Peter Mayr suchten nach den wahren Problemen.
Keine Gnade für Lausbubenstreiche
Zuerst die gute Nachricht: In Österreich gibt es keine Jugendbanden
mehr. Die Zeiten, wo die "Zentrumspartie zum Tschuschenklatschen
in den Prater fuhr" sind vorbei.
Das sagt einer, der sich seit Jahren mit dem Thema Jugendkriminalität
beschäftigt: Gerhard Brenner, Mitarbeiter des österreichischen
kriminalpolizeilichen Beratungsdienstes. Jugendbanden seien ein
Trend der beginnenden 90er-Jahre gewesen, den die Polizei erfolgreich
stoppen habe können. "Aber nicht mit restriktivem Vorgehen, sondern
durch den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen", erklärt Brenner.
Also, alles im Lot? Leider gibt es auch schlechte News: Die Jugendkriminalität
steigt kontinuierlich. Die Zahl krimineller Kinder unter 14 Jahren
hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. 1998 wurden
3774 Kids zwischen zehn und 14 Jahren angezeigt. Insgesamt stieg
der Anteil angezeigter Jugendlicher und Kinder an allen Verdächtigen
zwischen 1990 und 1998 von 11,5 auf 16,2 Prozent. Die niedrigste
Jugendkriminalität gibt es übrigens im Burgenland, die höchste
in Vorarlberg. Die zwei Spitzenreiter bei den Tatbeständen: Ladendiebstahl
und Suchtgiftdelikte.
Es hagelt Anzeigen ...
Doch diese Zahlen sind für Bernhard Heinzlmaier, Chef des Österreichischen
Institutes für Jugendforschung, überhaupt kein Beweis, dass die
Jugendkriminalität auch tatsächlich steigt. Gesetzesüberschreitungen
von Jugendlichen werden heutzutage nur genauer beobachtet und
geahndet als früher.
Die Anzeigenbereitschaft der Bevölkerung sei gestiegen. Dank Überwachungskameras
werden mehr Jugendliche geschnappt. So kann ein kleiner Ladendiebstahl
- oft als Mutprobe gedacht - große Folgen haben. Und: "Was früher
als Lausbubenstreich durchgegangen ist, ist heute ein Fall für
die Kriminalstatistik." Heinzlmaier kritisiert die "totale Einengung
der Jugendlichen" und glaubt auch jenen nicht, die meinen, die
Jugend benötige mehr Grenzen. Was die Jungen bräuchten, wäre "mehr
selbstbestimmte Zeit und Räume abseits von Institutionen- und
Elternkontrolle.
Auch Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie
an der Uni Wien warnt, die Kriminalstatistik als Gradmesser für
eine wachsende Gewaltbereitschaft von Jugendlichen zu sehen.
... in anonymen Orten
Die steigende Anzeigenbereitschaft führt sie auf die "Anonymisierung
der Gesellschaft" zurück. Den Nachbarsburschen, den man von früh
auf kennt, den zeigt man kaum an - Unbekannte schon. "Da fällt
die Hemmschwelle."
In dieselbe Kerbe schlägt Psychotherapeutin Irmgard Biedermann
von der "Erziehungsberatung", eine Servicestelle der Wiener Kinderfreunde.
In überschaubaren Einheiten gebe es "soziale Mitverantwortung"
für die Halbwüchsigen, was sich in konstruktiver Kritik äußere.
Banal, aber konkret hört sich das in etwa so an: "Schau mal Bua,
des Papier'l hebst aber jetzt bitte auf und tust in den Mistkübel."
In anonymen Städten
hingegen wird hingegen Kritik schnell destruktiv ("Saubande").
Fest steht, dass sowohl Lehrer als auch Beratungsinstitute eine
wachsende Zahl "schwieriger" Kinder verzeichnen. Einerseits steige
die Erziehungsunsicherheit, meint Biedermann dazu. Und andererseits
sei es eben auch viel leichter und gesellschaftlich anerkannter
geworden, Hilfe zu suchen.
Alle sind überfordert
Schließlich haben sich auch die gesellschaftlichen Strukturen
radikal gewandelt: Der Familienalltag erfordere heute viel mehr
Flexibilität als früher - von allen. Jobwechsel, Wohnungswechsel,
Kindergartenwechsel, Partnerwechsel und kaum Zeit für Gespräche.
Es sei eigentlich völlig normal, dass Kinder mit ihrem Verhalten
ausdrücken: "Mir ist das zu viel, mir geht das zu schnell", sagt
Biedermann.
Meist sind es die Pädagogen, die den Stein für eine therapeutische
Behandlung "verhaltensorigineller" Schüler ins Rollen bringen,
weil die Situation in der Klasse unerträglich geworden ist. Besonders
schwierige Kinder zwischen 6 und 15 werden in der "Heilpädagogischen
Ambulanz" im AKH sogar sechs Wochen stationär aufgenommen. Die
Warteliste ist lang. In Österreich fehlten "wirkliche Tageskliniken",
wo Kinder und Jugendliche dezentral betreut werden können, ohne
sie aus der Familie zu reißen, kritisiert Psychiater Werner Leixnering.
In den Institutionen befindet sich häufiger der Nachwuchs aus
der Unterschicht. Doch "Problemkinder" gibt es quer durch alle
Bevölkerungsschichten. Kinder aus "guten" Familien sind nicht
zwingend braver, meint "Kriminologin" Katharina Beclin. In einem
günstigen sozialen Umfeld könnten Ordnungsverstöße einfach anders
aus der Welt geschafft werden. Zum Beispiel, indem Eltern freiwillig
Schadenersatz anbieten. "Eine allein erziehende Mutter, die tagsüber
arbeitet, erfährt oft erst von der Tat ihres Kindes, wenn das
Jugendgericht droht", meint Beclin.
Eine Erfahrung teilen allerdings all jene, die mit straffälligen
Kids zu tun haben: Körperliche Aggressionen dieser Jugendlichen
- meist aus besonders schwierigen "Broken Home"-Verhältnissen
- haben an Härte zugenommen.
Der kriminalpolizeiliche Beratungsdienst will nun präventiv tätig
sein. Im Herbst soll ein Maßnahmenpaket gegen Jugendgewalt präsentiert
werden. Hauptanliegen ist Aufklärung in der Schule. In Salzburg
wurde etwa mit Schülern eine CD erarbeitet. Deren Inhalte: Gewalt,
Drogen und Kindesmissbrauch. Titel: "Voll okay".
"Nein" sagen fällt schwer - viele Kinder vermissen "richtig verstandene
Autorität"
Ein Mord an einer Lehrerin - ein Messerattentat auf eine Anwältin:
Das sind dramatische Ausnahmen, sagt Psychiater Werner Leixnering,
Chef der Heilpädagogischen Ambulanz im AKH. Ein gesamtgesellschaftliches
Problem sieht er jedoch in der wachsenden Zahl von Kindern und
Jugendlichen, denen es schwer fällt, eine "Anpassungsleistung
zu erbringen".
"Ich kann nicht mehr", sei ein Satz, den er von Eltern in den
letzten Jahren seiner Arbeit immer häufiger gehört habe. Seine
These dazu: "Nein sagen" falle Eltern immer schwerer, wodurch
junge Menschen erst spät ihre eigenen Grenzen sehen lernen. Außerdem
sei es "leider nicht mehr modern, Vorbild zu sein", meint Leixnering
im STANDARD-Gespräch. Viele Kinder vermissten "richtig verstandene
Autorität", klare Ordnungsstrukturen, einen überschaubaren Tagesablauf
sowie Regeln, an die sich auch die Erwachsenen halten.
Wobei der Psychiater davor warnt, das Pendel wieder in die andere
Richtung ausschlagen zu lassen: Eine Rückkehr zur alten Repression
sei auf keinen Fall wünschenswert.
Von der steigenden Erziehungsunsicherheit profitiert jedenfalls
eine Flut mehr oder weniger seriöser Literatur. Von den "armen
Kindern der Reichen" bis zum "Geheimnis glücklicher Kinder" reicht
die schier unübersehbare Palette. Manchmal erhöht die Lektüre
nur mehr die Ratlosigkeit gutwilliger Eltern.
Der Tenor neuer Bücher ist: positiv motivieren oder, anders ausgedrückt:
"Catch them at being good" (Erwisch sie, wenn sie gut sind),
wie es der Autor und Pädagoge Ernst Kret für "verhaltensauffällige"
Kinder empfieht. Wurden in diversen Ratgebern vor zwanzig, dreißig
Jahren noch Erziehungspatente abgegeben, herrscht nunmehr der
Trend, Kinder in ihrer Individualität wahrzunehmen und auf keinen
Fall in den Erziehungseintopf zu werfen. "Von der Unmöglichkeit
pädagogisch richtig zu handeln" lautet folgerichtig ein Untertitel
(Reichel/Scala: "Abschied von der Gewissheit"). Und dieser Meinung
schließt sich auch Leixnering
an: Es gebe nicht den richtigen, guten und wahren Erziehungsstil.
Der Umgang mit Kindern sei immer auch "interaktiv".
Lesen Sie dazu auch den Artikel "Lästige Kinder"!