Wie die Psyche das Gehirn baut
von Joachim Rogosch
Wenn Neurobiologen auf Psychotherapeuten treffen, gibt es zwei
Möglichkeiten: Die Neurobiologen erklären, dass das Seelische
nur eine elektrische oder chemische Reaktion des Gehirns ist.
Oder die Psychotherapeuten behaupten, dass das Eigentliche der
Seele nicht in der Materie des Gehirns zu finden sei. Bei den
51. Psychotherapiewochen in Lindau passierte Erstaunliches: Ein
Neurobiologe, der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther, erklärte
den Psychotherapeuten, dass die Seele die Materie des Gehirns
gestaltet.
Der Einbruch der Neurobiologie in die Psychotherapie ist dramatisch.
Hüther sprach von einem Paradigmenwechsel. Das wichtigste für
die Psychotherapie umwälzende Ergebnis der neueren Hirnforschung:
Das Gehirn ist nicht mit Abschluss der Entwicklungsphase fertig
und baut danach nur noch ab, sondern es ist plastisch. Es bleibt
lebenslang entwicklungsfähig. Seine Entwicklung ist abhängig von
der Erfahrung. Hüther berichtete von einer Untersuchung an Taxifahrern
aus London, bei der man messen konnte, dass das Zentrum für räumliche
Vorstellung, der Hypothalamus, umso größer ist, je länger jemand
Taxi fährt. Erleben formt das Gehirn. Hüther: "Ich kann das auch
erst denken, weil in den letzten zehn Jahren in der Hirnforschung
so viel passiert ist."
Gemeinhin erforschen Neurobiologen, "wie das Gehirn die Seele
macht". Eine zugespitzte Formulierung, wie der Direktor am Institut
für Hirnforschung der Universität Bremen, Gerhard Roth, einräumte.
Aber er nannte eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass die
Neurochemie des Zellgeschehens im Gehirn die Grundlage für dessen
Arbeit ist. In Millisekunden tauschen sich Ionen aus, laden und
entladen sich Spannungen, die heute exakt messbar sind. Wer die
elektrisch oder chemisch ausgelösten Reaktionen kennt, kann sie
auch herstellen. "Wir können Wünsche per Mikroelektrode auslösen",
sagte der Hirnforscher. Er konnte auch zeigen, dass Wünsche in
unbewussten Regionen des Gehirns entstanden sind, bevor das "Ich"
sie ins Bewusstsein übernimmt.
Die Kartierung des Gehirns ist weit fortgeschritten. Man kennt
Gesichtererkennungsneuronen und den Sitz der Raumwahrnehmung,
man hat verschiedene Bewusstseinszustände lokalisiert. Menschen
mit geschädigten Hirnteilen haben Schmerzen, aber "sie tun ihnen
nicht weh". Andere haben kein "Gewissen". Für Roth ist das nur
eine metaphorische Ausdrucksweise. "Aber der Effekt ist genau
dieser: Diese Menschen sind aufgrund der Gehirn-Fehlfunktion nicht
sozialisierbar." Roth wies auch darauf hin, dass die entsprechenden
Modulatoren nicht nur durch eine äußere Verletzung geschädigt
werden können, sondern auch "durch die Zurückweisung durch die
Mutter."
Hüther sieht in Roths Arbeiten "die Pfeiler" für eine Brücke zwischen
Neurobiologie und Psychotherapie. Es sind Messungen, nicht Ideen,
die zu den neuen Erkenntnissen geführt haben. Die Organisatoren
der Lindauer Psychotherapiewochen wittern die Chance, dass ihr
Beruf durch die naturwissenschaftliche Begründung ihres Tuns an
Anerkennung gewinnt, wie der Heidelberger Psychiater Manfred Cierpka
betonte.
Der Neurobiologe Hüther hat wenig Scheu davor, über nicht Messbares
zu sprechen: über die Erfahrung, jenen nicht angeborenen Einflussfaktor,
der irgendwie im Gehirn und im ganzen Körper verankert ist. "Wem
nichts mehr unter die Haut geht, der kann auch keine Erfahrung
mehr machen", so Hüther. Umgekehrt stellte er fest, dass Erfahrung
tatsächlich unter die Haut geht und dort Zellen zu verändern vermag.
Die Unbefangenheit, über nicht messbare Faktoren zu sprechen,
nimmt er aus der Erfahrung mit dem Messbaren. Seit das Dogma vom
nicht mehr änderbaren Gehirn gefallen ist, öffnet sich eine neue
Welt. Wenn Hirnforscher sehen, wie sich bei Blinden, die Brailleschrift
lesen, das Gehirn verändert, ist ein Leugnen des Einflussfaktors
Erfahrung sinnlos. Wie der Körper Hornhaut bildet an beanspruchten
Stellen, so auch das Gehirn.
Für die Neurobiologen ist das Gehirn das Reaktionsorgan auf Veränderung.
Es muss mit Stress fertig werden. Hüther schilderte ein Beispiel:
Wird einer plötzlich arbeitslos, wird zuerst im Unbewussten die
Amygdala aktiviert, die auf das limbische System im Gehirn wirkt.
Das Gehirn strebt nun danach, aus einem asynchronen wieder in
einen synchronen Zustand zu gelangen. Vier Möglichkeiten zählte
Hüther auf: Drogen wie Extasy, die den Botenstoff Serotonin ausschütten
und damit chemisch wirken, Rhythmen wie Gehen oder "Rosenkranzbeten,
das mantrische Aufsagen von immer Gleichem", Entspannung, wie
sie in asiatischer Meditation bewirkt wird, und die Bewältigung
des Stress auslösenden Faktors.
Wer ohne Drogen zur Bewältigung seiner Probleme ansetzt, braucht,
so Hüther, drei Unterstützungsmittel: das Vertrauen in eigene
Fähigkeiten: die Erfahrung, das Vertrauen in die Fähigkeiten anderer:
die Bindung, und das Vertrauen in vorgestellte Kräfte: der Glaube.
Hat das Gehirn Vertrauen erfahren, kommt es in den Flow. Aus einem
Problem wird ein gelöstes Problem, mit dem entsprechenden Lustgewinn.
Macht es keine Vertrauenserfahrung, gelangt es in einen Teufelskreis:
Zu dem Problem kommt die Erfahrung, dass es nicht gelöst wurde.
Nicht die Lösung des Problems wird zum Halt im Leben, sondern
der Weg vom Problem zur Lösung. "Der Weg ist das Ziel", übersetzt
Hüther. Für ihn ist das kein Glaubenssatz, sondern eine neurochemisch
gewonnene Erkenntnis aus der Untersuchung von Opiatausschüttungen
im Gehirn.
Die Konsequenzen für die Psychotherapie sind einschneidend. In
Lindau wurde Hüther nach Therapiemöglichkeiten für aufmerksamkeitsgestörte
Kinder gefragt. Man weiß, dass bei ihnen das dopaminergene System
unzureichend arbeitet und versucht, mit Psychopharmaka Ausgleich
zu schaffen. Die Hirnforscher sehen darin eine eher grobe Methode,
zumal laut Hüther eine Erkrankung des dopaminergenen Systems bisher
nicht dokumentiert werden konnte. Dagegen kennt man jetzt einen
anderen Einflussfaktor auf die Botenstoffe im Gehirn: soziale
Kontakte. Je fester und vielfältiger diese seien, desto stärker
sei das dopaminergene System.
Dogmen fallen, Weltbilder verändern sich. Das ist der Lauf der
Wissenschaftsgeschichte. In Lindau wurde dies auch deutlich im
Umgang mit der Wissenschaftssensation des vergangenen Jahres:
dem Human Genome Project. Schon der Zellforscher Friedrich Cramer
hatte zum Auftakt die Konzentration auf das menschliche Genom
als "völlig veraltetes Konzept " abgetan. Phänomene wie die Seele
sagten wesentlich mehr aus über den Menschen. Hüther legte nach.
Craig Venter habe mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms
nur herausgefunden, dass dort das Geheimnis des Lebens nicht zu
finden sei. "Das Menschenhirn ist so wenig wie möglich genetisch
geprägt, damit wir so viel wie möglich lernen können". Für die
Psychotherapeuten heißt das: an die Arbeit. Für die Menschen heißt
das: Es gibt keine Ausrede mehr.
Unser Kommentar: Ein altes Problem - das möglicherweise gar keines ist - wird
offenbar neu aufgerollt. In jüngster Zeit ist zu beobachten, daß
die Neurowissenschaften mit verfeinerten Forschungsmethoden Ergebnisse
hervorbringen, die Hypothesen und Modelle psychodynamisch orientierter
Konzepte wie z.B. der Psychoanalyse - die oft als unbewiesen und
spekulativ bezeichnet worden sind - im Nachhinein untermauern.
Von diesen Untersuchungen sind in Zukunft noch viele spannende
Ergebnisse zu erwarten.
Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unserem Beitrag
Traumata in Kindheit hinterlassen "Narben" im Gehirn
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