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Kinder und Psychopharmaka

von Simone Georgieva

Antidepressiva, Antipsychotika oder Stimulanzien - Kinder aus den USA werden um bis zu dreimal häufiger mit Psychopharmaka behandelt, als ihre europäischen Altersgenossen. Da viele Medikamente, insbesondere Psychopharmaka nicht speziell auf den Gebrauch von Kindern abgestimmt sind, erfolgt eine Verschreibung oftmals im „unlizenzierten“ Off-Label-Use.

Das  Fachblatt „Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health“  veröffentlichte die in einer länderübergreifenden Studie erfassten Zahlen, die darstellen wie häufig Psychopharmaka an amerikanische und westeuropäische Kinder verschrieben werden. Gerd Glaeske der Universität Bremen und Kollegen untersuchten 600. 000 versicherte Kinder und Jugendliche aus den USA, Niederlanden und Deutschland zwischen dem Alter von 0-19 Jahren. Die Daten stammen aus einer Erhebung aus dem Jahr 2000. Die Ergebnisse zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit der Verschreibung eines Medikaments zur Behandlung einer psychischen Erkrankung  bei amerikanischen Kindern um bis zu dreimal höher ist, als bei Altersgenossen aus Deutschland oder den Niederlanden. Eine Problematik bei der Verschreibung von Psychopharmaka bei Kindern ergibt sich aufgrund des sogenannten Off-Label-Use.

Aufputschen und  Ruhigstellen 

Es scheint fast so, als ob Kinder in den USA öfter unter Depressionen leiden, sie scheinbar öfters Anzeichen einer Psychose, einer Gruppe schwerer psychischer Störungen aufweisen und offensichtlich auch ein vermehrtes Maß an aufputschenden Medikamenten benötigen um ihre Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit zu steigern. Die Prozentzahlen der Studie legen diese Schlussfolgerung zumindest auf den ersten Blick nahe: Während lediglich 2,0 Prozent der Kinder aus Deutschland und 2,9 Prozent der niederländischen Kinder im Untersuchungsjahr mindestens einmal ein Psychopharmaka erhalten hatten, fiel der Prozentsatz der amerikanischen Kinder mit 6,7 Prozent deutlich höher aus. Antidepressiva und Stimulanzien wurden entsprechend den Prozentzahlen in den USA drei Mal häufiger verschrieben als in den Vergleichsländern und Antipsychotika wurden ca. eineinhalb Mal so oft verschrieben. Bei einer genaueren, kritischeren Betrachtungsweise wird klar, dass amerikanische Kinder vermutlich nicht zwingend vermehrt unter psychischen Störungen leiden, sondern sich in den Ergebnissen lediglich länderspezifische Unterschiede in der Handhabung von Medikamenten in den USA  im Vergleich zu westeuropäischen Ländern wiederspiegeln.

Kontraste

Forscher gehen davon aus, dass es mehrere verschiedene Ursächlichkeiten für die Kontraste zwischen den USA und Europa gibt. Ein Grund stellt jener dar, dass in den USA eine deutlich höhere Rate von Psychiatern für Kinder und Jugendliche vertreten ist, als dies in Europa der Fall ist. Zudem führen unterschiedlichen Diagnosesysteme zu einer vermehrten Verschreibung von Psychopharmaka in den USA. Im Gegensatz zu Europa scheint es in den USA beispielsweise einen vermehrten Trend zur Diagnostizierung bipolarer Störungen, sowohl  bei Kindern als auch bei Erwachsenen zu geben und in Europa ist es auch eher unüblich Kindern innerhalb eines Jahres zwei oder gar mehr verschiedene Psychopharmaka zu verschreiben. Des Weiteren gibt es unterschiedliche länderspezifische Richtlinien, so gibt es in Europa z.B. für bestimmte Arzneimittel Begrenzungen für deren Ausgabe, bzw. Kostenbeschränkungen. Auch die kulturelle Einstellung und Mentalität scheint Einfluss auf den Gebrauch von Medikamenten zu nehmen. Es gibt offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber, inwieweit Medikamente bei Problematiken die das Verhalten oder den emotionalen Zustand betreffen eingenommen werden sollten und Amerikaner haben im Allgemeinen eine individualistischere und selbstbestimmte Vorstellung um deren Behandlung, was sich in einem gestiegenen Medikamentenverbauch wiederspiegelt. Auch Marketing ist ein bedeutsamer Faktor für die Unterschiede, so richtet sich in den USA Werbung für rezeptpflichtige Medikamente direkt an den Endverbraucher und es wird generell deutlich mehr geworben als in Europa.

Behandlungsleitlinien zu wenig beachtet?

Die deutsche Bundespsychotherapeutenkammer kritisiert, dass hyperaktive Kinder und Jugendliche in Deutschland häufig falsch behandelt würden. Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, bei denen ADHS diagnostiziert wird, erhalte keine spezifische Behandlung, über 40 Prozent bekämen eine Monotherapie mit Psychostimulanzien. Aktuell erhalten nach den Daten der KV Bayerns nur 3,7 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Psychotherapie und nur 2,8 Prozent eine Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie.

Die Diagnose ADHS wird bei Kindern mit Eintritt ins Schulalter immer häufiger gestellt. Vor allem Jungen fallen dann durch Hyperaktivität oder Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen auf. Bei den 11- bis 14jährigen erkrankt jeder zehnte Junge an ADHS, aber nur jedes 43. Mädchen. Medikamente scheinen eine schnelle und einfache Lösung zu bieten. "Bei ADHS werden viel zu oft und zu schnell Medikamente verschrieben", kritisiert BPtK-Präsident Prof. Rainer Richter. "Diese einseitige medikamentöse Behandlung entspricht nicht den Empfehlungen einer fachgerechten Behandlung." Dabei seien die Auswirkungen dieser oft jahrelangen medikamentösen Behandlung noch gar nicht ausreichend erforscht. Für eine leitliniengerechte Versorgung fehlen bundesweit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. "Die Wartelisten für psychisch kranke Kinder und Jugendliche sind lang. Wir brauchen deshalb dringend eine 20prozentige Mindestquote für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie", fordert Richter.

Die Leitlinien empfehlen eine multimodale ADHS-Therapie, bestehend aus

  • Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes oder Jugendlichen und der Erzieher bzw. Lehrer,
  • Elterntraining und Familientherapie,
  • Interventionen im Kindergarten oder in der Schule,
  • Psychotherapie des Kindes oder Jugendlichen,
  • Pharmakotherapie unter sorgfältiger Abwägung des Nutzens und der Risiken, bei Kindern unter sechs Jahren grundsätzlich erst dann, wenn andere Interventionen ohne Erfolg geblieben sind.

Die Realität sieht leider anders aus: So erhalten nach den Daten der KV Bayern nur 3,7 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Psychotherapie und nur 2,8 Prozent eine Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten fehlen laut BPtK bundesweit.

Stiefkind Diagnostik

Dass einerseits die Diagnose ADHS mit Eintritt ins Schulalter immer häufiger gestellt wird, aber selbst Spezialisten für eine gründliche Anamnese mehrere Stunden brauchen - mehr Zeit, als Haus- und Kinderärzten in der Regel im Praxisalltag bleibt -, lässt den Verdacht aufkommen, dass hier zu schnell diagnostiziert und verschrieben wird.

Für eine sorgfältige ADHS-Diagnose ist es laut Richter nicht nur notwendig, sich ausführlich mit den Eltern und altersabhängig auch mit dem Kind zu unterhalten und beide zu beobachten - wichtig seien auch Informationen aus Schule und Kindergarten, hinzu kämen spezielle Testverfahren. "Erst mit einer gründlich ermittelten Krankengeschichte lässt sich zuverlässig festzustellen, ob ein Kind tatsächlich an ADHS erkrankt ist und wie ihm wirksam geholfen werden kann", betont Richter.

Risiko Off-label-Use

Eine Problematik bei der Einnahme von Psychopharmaka bei Kindern ergibt sich aus der Tatsache heraus, dass in klinischen Studien Medikamente meist an Erwachsenen ausgetestet werden und eventuelle Risiken und Nebenwirkungen die sich bei Kindern ergeben können, schwierig abzuschätzen sind. Da die meisten Medikamente aus ethischen und wirtschaftlichen Gründen an Erwachsenen geprüft werden, werden sie auch für diese am Markt zugelassen und die Verschreibung von Arzneimitteln für Kinder erfolgt oftmals im Off-Label-Use, das heißt außerhalb der in der Zulassung festgelegten Bedingungen.

Kinder erhalten also Medikamente, die eigentlich nicht für den Einsatz in einer bestimmten Altersgruppe zugelassen sind. In der Kinderkardiologie erfolgt beispielsweise die Verwendung von ca. 50-75 Prozent der Medikamente im Off-Label-Gebrauch und auch bei der Verschreibung von Psychopharmaka ist dies eine gängige Praxis. Die FDA, die US-amerikanische Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit, listete einige Psychopharmaka auf, die in den USA für gewöhnlich im Off-Label-Use verordnet werden. Dazu gehören Stimulanzien, verschiedene Antidepressiva wie SSRIs, Antipsychotika, sowie Medikamente zur Behandlung von bipolaren Störungen und Aggressionen.

Wie wichtig eine sorgfältige auf Kinder abgestimmte Überprüfung von Medikamenten ist, zeigen historische Befunde. Es gibt einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an Medikamenten, deren negative Aus- und Nebenwirkungen erst durch einen längerfristigen Einsatz ersichtlich wurden. Pemoline wurde z.B. bei Kindern zur Behandlung von ADHS eingesetzt. Während bei Erwachsenen relativ früh die Anzeichen einer Lebertoxizität durch das Medikament entdeckt wurden, erkannte man die Sicherheitsrisiken bei Kindern aufgrund des zaghaften Einsatzes erst relativ spät. Manche Antidepressiva wurden bei Kinder und Jugendlichen mit vermehrten Suizidgedanken und Selbstmordversuchen in Zusammenhang gebracht. Entsprechend sind Maßnahmen zu einer Verbesserung der Arzneimittelsicherheit speziell für Kinder zu treffen, wie etwa eine Langzeitüberwachung von Kindern durch ihre behandelnden Ärzte, um die Versorgung mit behördlich zugelassenen Medikamenten für Kinder und Jugendliche ausbauen zu können.

Quelle: Spiegel, noows, webnews, capmh, Neuro-Online, Bundespsychotherapeutenkammer Deutschland

 

 

Unser Kommentar: Ärzte stehen in Anbetracht des Off-Label-Use vor einem unüberwindbaren Dilemma: Einerseits soll Kindern mit Problemen mittels einer wirksamen Medikamententherapie geholfen werden, auf der anderen Seite sind die „labeled“, also zugelassenen Behandlungsmöglichkeiten relativ bescheiden- Ergo sind Ärzten offiziell die Hände gebunden, oder sie überschreiten arzneimittelgesetzliche Grenzen. Das Problem bei Medikamenten, die eigentlich für Erwachsene gemacht sind, ist die Tatsache, dass Kinder nicht als eine Miniaturausgabe Erwachsener zu verstehen sind – sie haben andere psychische  und physische Gegebenheiten und durchlaufen noch verschiedene Entwicklungsstadien. Daher reicht es größtenteils einfach nicht die „Erwachsenen-Medikamentendosen“ herunter zu reduzieren, oder eine Tablette zu halbieren oder zu vierteln, vielmehr muss auf die speziellen Bedürfnisse von Kindern eingegangen werden. In diesem Zusammenhang ist eine Aufklärung der Eltern besonders wichtig. Eltern sollten darüber informiert werden, dass eine Behandlung möglicherweise außerhalb des dafür vorgesehenen Altersrahmens stattfindet und sich entsprechend mögliche Risiken für Kinder daraus ergeben können. Generell scheinen Europäer einem Medikamentengebrauch etwas vorsichtiger und kritischer gegenüber zu stehen als Menschen aus den USA, die eine „medikamentenfreundlichere“ Haltung zu haben scheinen. Teilweise ist es fraglich, inwieweit bei weniger gravierenden psychischen Problematiken tatsächlich gleich Psychopharmaka zum Einsatz kommen müssen und eine Verschreibung speziell bei Kindern zu leichtfertig erfolgt. In letzter Zeit finden beispielsweise auch homöopathische Präparate vermehrt Anklang, mit denen oftmals gute Erfolge erzielt werden können, besonders bei leichteren Formen von Depressionen oder Spannungszuständen. In schwerwiegenderen Fällen hingegen ist eine medikamentöse Therapie oftmals unbedingt erforderlich, denn leider helfen nicht gegen alle „Depriphasen“ Johanneskraut und Schokolade. In jedem Fall gilt aber: eine Kombination mit psychotherapeutischer Betreuung ist unbedingt vorzunehmen!

Simone Georgieva/Zentrum Rodaun

 

 

Literaturtipps:

Aribert Rothenberger, Hans-Christoph Steinhausen: Medikamente für die Kinderseele: Ein Ratgeber zu Psychopharmaka im Kindes und Jugendalter. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Gerhardt Nissen, Jürgen Fritze, Götz-Erik Trott: Psychopharmaka im Kindes – und Jugendalter. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

Gabi Hoffbauer, Nicole Schaenzler: Medikamente für Kinder. Bestellmöglichkeit bei amazon.at!

 

Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen

"Modedroge" für hyperaktive Kinder

Schon Kleinkinder werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt

 


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