Nachlesen-Logo


 

Bekwem, Bekwehm, Begwem

 

Gegen Lese- und Rechtschreibschwäche gibt es viele Therapieangebote ­ nicht alle sind seriös. Eine neue Initiative hilft Eltern und Lehrern mit fundierter Beratung

 

Die Mutter war verzweifelt: "Das Geld, das in den vergangenen drei Jahren eigentlich für die Familienurlaube vorgesehen war, haben wir in die Legasthenie-Behandlung unserer mittlerweile 12-jährigen Tochter gesteckt. Und es hat sich gar nichts getan - die Symptome sind nicht besser geworden."

Mit solchen Schicksalen hat die Psychologin und Legasthenie-Spezialistin Renate Strasser in letzter Zeit sehr oft zu tun. "Immer häufiger tauchen unseriöse Angebote zur Behebung von Legasthenie auf: ,Fehlerfreies Schreiben in 14 Tagen?, ,keine Schulprobleme mehr in zwei Monaten? ­ es gibt ein richtiges Wettrennen, wer die richtige Methode gefunden hat und den schnellsten Weg zur Heilung anbieten kann."

Hintergrund

Legasthenie bezeichnet eine Schwäche im Lesen und/oder im Rechtschreiben. Drei bis sieben Prozent aller Kinder sind davon betroffen. "Mit Intelligenzschwäche hat Legasthenie nichts zu tun: Die Kinder sind durchschnittlich, oft überdurchschnittlich intelligent", so Psychologin Renate Strasser.

Häufigster Auslöser sind neuropsychologische Störungen (Sprach-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisstörungen), die oft auch genetische (erblich bedingte) Ursachen haben.

Diagnose

Strasser rät, für die Diagnose einen Kinderpsychologen aufzusuchen: "Es gibt sehr verschiedenartige Formen von Legasthenie. Ein Psychologe kann die genaue Ursache feststellen und abklären, ob es sinnvoll wäre, noch einen anderen Spezialisten ­ etwa einen Neurologen bei Hinweisen auf Hirnfunktionsstörungen ­ aufzusuchen."

Legasthenie kann man erst im Volksschulalter diagnostizieren, so die Expertin: "Im Vorschulalter ist es aber möglich, durch das Abtesten der Vorläuferfunktionen der Sprache ­ etwa Reimen, Silben klatschen, Laute erkennen ­ herauszufinden, ob ein Legasthenie-Risiko besteht."

Durch spielerische Förderung sei es dann sehr oft möglich, sprachliche Defizite bis zum Schulanfang zu verringern: "Der negative Kreislauf von Versagensängsten, mangelndem Selbstwertgefühl und Verhaltensauffälligkeiten kommt dann gar nicht auf."

"Früher nahm man an, dass spezielle Fehler wie etwa das Verdrehen von Ziffern (24 statt 42) oder von Buchstaben (dei statt die) typisch für Legastheniker sind. Strasser: "Solche Fehler können aber sowohl bei Legasthenikern als auch Nicht-Legasthenikern vorkommen. Das ist kein eindeutiger Hinweis." Heute gehe man von der Gesamtheit aller Fehler aus: "Wenn die Lese- und Rechtschreibfähigkeit eines Kindes von mehr als 85 Prozent der Gleichaltrigen übertroffen wird, ist das ein starkes Indiz für Legasthenie."

Qualität

Gerade zum Semesterende ­ wenn die schlechten Noten Gewissheit werden und die Eltern gegensteuern wollen ­ boomen pseudowissenschaftliche Therapien: "Jeder kann auf seine Visitenkarte ,Legasthenie-Therapeut' drucken lassen ­ ohne eine spezielle Ausbildung haben zu müssen. Deshalb gibt es diesen Wildwuchs." Aber Legasthenie könne weder in zwei Wochen noch in zwei Monaten geheilt werden ­ "das ist ein langer Prozess".

Strasser hat mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Univ.-Doz. Prim. Georg Spiel (LKH Klagenfurt) sowie Psychologen, Pädagogen und Psychotherapeuten den "Qualitätszirkel Legasthenie" gegründet. Unterstützt wird die Initiative von Raiffeisen NÖ-Wien und dem KURIER. "Wir beraten Eltern und Lehrer, welche Trainingsmethode seriöserweise empfohlen werden kann."

Der Qualitätszirkel bietet auch eine Ausbildung zum Diplomierten Legasthenie-Therapeuten (z.B. für Kindergärtner, Lehrer, Psychologen, Psychotherapeuten) an. 60 Absolventen gibt es bereits, im Februar startet in Wien der dritte berufsbegleitende Lehrgang mit zwölf Wochenendblöcken über 15 Monate.

Strasser: "Voraussetzung dafür, dass eine Therapie erfolgreich ist, ist neben einer guten Beziehung zum Kind eine fundierte Ausbildung des Therapeuten. Diese zeigt sich u.a. dadurch, dass er einen individuellen Therapieplan für das Kind entwickelt."

Sehr oft treten erste Legasthenie-Symptome rund um den Jahreswechsel in der ersten Volksschulklasse auf: "Die Kinder können sich nicht mehr als zirka zehn Buchstaben merken und beginnen alles zu verwechseln." Eine Zeit lang helfen sie sich mit Auswendiglernen: "Die Eltern gehen mit dem Kind jedes Lernwort durch. Aber die Kapazität des Auswendiglernens und Merkens eines Wortbildes ist oft nur auf einen kurzen Zeitraum begrenzt ­ und spätestens in der dritten Klasse gibt es auf Grund des zunehmenden Wortschatzes große Probleme." Oft werde erst dann die richtige Diagnose gestellt.

Häufig würden Lehrer und Eltern den Fehler machen, von den Kindern zu verlangen, dass sie noch mehr üben: "Doch mehr vom immer gleichen bringt nichts." Strasser nennt ein Beispiel: "Die Lehrerin sagt einem Kind in der vierten Klasse, ,bequem schreibt man mit qu. Schreibe es drei Mal'. Das Kind setzt sich hin und schreibt bekwem, bekwehm, begwem. Das frustriert alle. Oft werden die Kinder dann zu Unrecht als faul oder dumm abgestempelt."

Aufbauen

Legasthenie-Therapie ist kein Nachhilfeunterricht. "Bei letzterem geht es um ein Üben für eine konkrete Prüfung. Die Legasthenie-Therapie muss jedoch dort ansetzen, wo das Kind steht: Und das ist oft weit entfernt vom Schularbeitsstoff." Ein erfolgreicher Ansatz sei, das Rechtschreibwissen Schritt für Schritt ­ oft über Jahre hinweg ­ aufzubauen.

Dabei brauche das Kind Erfolgserlebnisse: "Auch wenn es sehr viele Fehler bei einer Schularbeit hat: Wenn nur ein Fehlertyp - etwa ck-Fehler - seltener wird, ist das schon ein Fortschritt, der gelobt werden muss."

Strasser will das Bewusstsein für so ein differenziertes Vorgehen heben: "Bei gleicher Intelligenz gehen 40 Prozent der Nicht-Legastheniker ins Gymnasium und nur zehn Prozent der Legastheniker. Das ist völlig ungerechtfertigt, weil es verhindert, dass legasthene Kinder mit guter technischer oder mathematischer Begabung den Weg zur Matura schaffen."

Quelle: Kurier

 

 

Unser Kommentar: Kritisches Qualitätsbewusstsein hinsichtlich Therapieangeboten jeder Art - auch was die Behandlung der Legasthenie betrifft - ist ein wichtiges Anliegen, daher ist diese Initiative aus unserer Sicht zu begrüßen. Wichtig auch die Betonung von fachgerechter Diagnostik vor der Behandlung; Schulprobleme, auch Probleme beim Erwerb der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, können verschiedenste Ursachen haben. Wir empfehlen daher immer eine sorgfältige Diagnostik, um jedem Einzel"fall", d.h. jedem betroffenen Kind, gerecht werden zu können. Es geht darum, die zu dem jeweiligen Kind und seiner individuellen Problematik am besten passende Therapie durchzuführen - und darum, den Eltern diese durch fachlich fundierte Argumente zu erklären. "Fehlerfreies Schreiben in 14 Tagen", wie im Bericht erwähnt, ist es meistens nicht.

G. Kral/Zentrum Rodaun

 

Links:

www.qualitaetszirkel-legasthenie.at (ab Februar 2003)

www.sindelar.at




Weitere Informationen zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen

Lernstörungen aus psychoanalytischer Sicht

Jedes 10. Kind leidet an Legasthenie

 

 

 


Zentrum Rodaun, 1230 Wien, Kaltenleutgebnerstraße 13A / 23
Tel: 01/8892572, 01/8891021 e-mail: team@zentrum-rodaun.at