"Essen ist oft eine Ersatzbefriedigung"
Übergewicht bei Kindern nimmt zu - Sabina Auckenthaler (Der Standard) fragte nach Strategien gegen Übergewicht und bekam Antworten von zwei Spezialisten: dem Psychologen Gerald Kral und dem Tänzer und Bewegungsanimateur Alamande Belfor.
Standard: Sind die Eltern schuld, wenn Kinder übergewichtig sind?
Belfor: Eltern tragen Verantwortung für ihre Kinder. Genauso wie ein
krankes Kind umsorgt werden muss, braucht ein Kind, das sich in
seinem Körper nicht mehr wohl fühlt, Hilfe. Wenn zu Hause nur
Süßigkeiten herumstehen, ist es kein Wunder, wenn das Kind danach
greift. Eltern sollten also ruhig die Kekse und die Schokolade
im Supermarkt lassen und dafür einen Obstkorb auf den Tisch stellen.
Und zwar mit schönem, ansprechendem Obst, das Lust macht. Und:
Sie sollten natürlich auch selber hinlangen. Dasselbe gilt für
die Bewegung. Es ist vielleicht mühsam, das Kind ein- oder zweimal
in der Woche in einen Sportclub zu bringen oder mit ihm Radfahren
zu gehen, aber es lohnt sich.
Kral: Eltern spielen oft eine wichtige Rolle bei der Gewichtszunahme
und beim Aufrechterhalten des Gewichtes. Man muss aber mit dem
Begriff "Schuld" sehr vorsichtig sein: die Eltern machen es meist
so gut sie können, sie wollen dem Kind ja nicht absichtlich etwas
Schlechtes tun.
Wichtig ist aber, die Eltern zu gewinnen, sodass sie das Kind
optimal unterstützen. Das bedeutet auch, dass sie ihre eigenen
Ernährungsgewohnheiten überdenken müssen. Wenn sie selber nicht
auf den fetten Braten verzichten wollen, können sie das schwerlich
vom Kind verlangen.
Standard: Welche Rolle spielt die Psyche für das Übergewicht bei Kindern?
Kral: Bei vielen, nicht bei allen, Kindern spielen psychische Ursachen
mit eine Rolle, dass Übergewicht entsteht. Bei anderen Kindern
wiederum entstehen aufgrund des Übergewichts und der damit verbundenen
sozialen Nachteile etwa beim Fußball immer als letzter gewählt
zu werden Selbstwertprobleme. Meistens vermischen sich Ursache
und Wirkung. Essen ist oft eine Ersatzbefriedigung das ist keine
neue Erkenntnis. In Kombination mit Bewegungsmangel kommt es dann
zu Übergewicht. Dicke Kinder bewegen sich dann meist noch weniger,
das Gewicht steigt weiter ein Kreislauf.
Belfor: Ich sehe häufig adipöse Kinder, die ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl
haben. Kinder brauchen Bestätigung, man muss ihnen von Geburt
an vermitteln: Du bist mein Prinz, meine Prinzessin, ich liebe
dich, genauso wie du bist. Das gilt auch beim Abnehmen: Manche
Kinder haben schon monatelang versucht, selber abzunehmen. Wenn
sie aber ständig nur hören, dass sie zu fett und zu faul sind,
klappt das nicht. Sie brauchen positive Botschaften: "Du fühlst
dich nicht wohl in deinem Körper? O.k., ich helfe dir, das zu
verändern."
Standard: Wie helfen sie Kindern, ihr Gewicht loszuwerden?
Belfor: Man muss es schaffen, den Kindern zu vermitteln, dass Bewegung
Spaß macht. Das ist bei übergewichtigen Kindern nicht leicht:
sie werden meist schnell müde, fühlen sich unwohl in ihrem Körper,
schämen sich oft. Sie brauchen also jemanden, der sie beim Arm
nimmt und sagt: Ich gehe gemeinsam mit dir diesen Weg. Und wie
alle Kinder, wollen auch übergewichtige Kinder Spaß haben: ich
lasse sie z.B. auf Boxkissen über ein imaginäres Meer springen,
in dem Piranhas und Haie warten, ich arbeite mit Power-Musik und
mit Tanzvideos, die Kindern mögen.
Kral: Kinder erreicht man ganz sicher nicht mit dem erhobenen Zeigefinger.
Vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass sie davon profitieren
können, wenn sie ihre Lebensgewohnheiten verändern.
Unser Team in Rodaun besteht aus Ernährungsberatern und Psychologen.
Unsere Betreuung ist dabei langfristig ausgerichtet, man sollte
das Projekt "Gewichtsreduktion" schon mindestens auf ein Jahr
ansetzten. Zum einen geht es bei uns konkret um das Wissen um
die Ernährung: was nehme ich überhaupt zu mir, wenn ich z.B. eine
Portion Pommes esse? Als Psychologe versuche ich gemeinsam mit
den Kindern herauszufinden, wofür das übermäßige Essen steht.
Wenn man dann erkennt, dass ein Kind in einer bestimmten Situation
immer zur Tafel Schokolade greift, kann man gemeinsam nach Alternativen
suchen. Vielleicht reicht es ja manchmal anstatt der 200-Gramm-Tafel
nur ein Stück zu essen, vielleicht lässt sich die Lust auf Süßes
auch einmal mit Trockenobst befriedigen.
Standard: Kritiker von Ernährungsprogrammen merken an, das ständige Gerede
von Bodymaßindex und Kalorien würde unsere Kinder noch weiter
von einem natürlichen Essverhaltem entfernen.
Kral: Der Body-Maß-Index ist eine relativ einfache und schnelle Methode,
um das Ausmaß des Übergewichts festzustellen. Die Kalorienanzahl
auf der Verpackung eines Lebensmittels kann ein grober Anhaltspunkt
sein, eine Orientierungshilfe.
Belfor: Diese extreme Kalorienzählerei, die vor einigen Jahren in Mode
war, ist heute zum Glück großteils vorbei. Es kann ja nicht darum
gehen, dass alle Kinder pro Tag eine gewisse Kalorienzahl zu sich
nehmen, oder einen Bodymaßindex von einem bestimmten Wert erreichen
müssen. Verbote bringen in Bezug auf das Ernährungsverhalten gar
nichts. Es geht darum, den Kindern zu vermitteln, dass Essen etwas
sehr Sinnliches und Schönes ist. Zum Beispiel eine richtig reife
Mango zu essen, ist ein unbeschreiblicher Genuss. Am Sonntag gemeinsam
mit der Familie zu essen, vorher den Tisch schön zu decken, das
sind Erfahrungen, die Kindern beim richtigen Umgang mit Essen
helfen.
Standard: Den Kampf gegen Übergewicht hat sich auch die EU auf ihre Fahnen
geheftet. Wird ihrer Meinung nach von der öffentlichen Seite genug
für Kinder mit Übergewicht getan?
Kral: Untersuchungen zeigen, dass übergewichtige Kinder häufig aus
sozial schwachen Familien kommen. Und diese Familien können sich
viele Programme nicht leisten. Leider fühlen sich die Krankenkassen
hier nicht zuständig. Die Kosten für die Teilnahme an Gewichtsreduktions-Programmen
werden nur übernommen, wenn eine Diagnose für eine psychische
Erkrankung vorliegt. Ich bin aber überzeugt, dass sich eine Kostenübernahme
angesichts der häufigen Folgeerkrankungen von Übergewicht durchaus
bezahlt machen würde. Schließlich wissen wir aus mehreren Studien,
dass aus adipösen Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit adipöse
Erwachsene werden.
Auch über die Schule könnte man im Kampf gegen Übergewicht mehr
tun, als dies heute geschieht. Denn dort würde man alle erreichen,
auch die Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Die Entwicklung
geht hier leider in die falsche Richtung. Wenn Turnstunden gekürzt
werden, dann ist das absolut das falsche Signal. Auch die Ernährung
in den Schulkantinen ist aus gesundheitlicher Sicht heute oft
alles andere als günstig.
Standard: Die Aufklärung über einen gesunden Lebensstil läuft seit Jahren.
Die Erfolge sind mäßig. Läuft die ganze Aufklärung eigentlich
ins Leere?
Kral: Wissen allein, überhaupt wenn es abstrakt ist, verändert noch
nichts. Ich finde daher z.B. auch diese Sendungen, die uns vor
Augen führen, was wir so essen z.B. welche Unmenge an Zucker
wir zu uns nehmen, wenn wir einen Monat lang jeden Tag eine Flasche
Cola trinken gar nicht so schlecht.
Belfor: Ich würde mir sogar noch mehr Aufklärung und Kampagnen wünschen.
Die Leute wissen inzwischen, dass Obst gesünder ist, als Schokolade.
Aber sie vergessen es gern. Vielleicht sollte man in den Supermärkten
Plakate aufhängen, mit der Frage: Haben Sie heute schon etwas
Gesundes gekauft? Etwas, was wir noch vermehrt vermitteln müssen,
ist auch, dass wir rechtzeitig gegensteuern müssen. Wenn die Kinder
erst einmal extrem übergewichtig sind, zwanzig, dreißig und mehr
Kilo zu viel wiegen, dann wird es sehr schwierig für sie abzunehmen.
Sie müssen dann eine ungeheure Energie aufbringen. Durch rechtzeitige
Gegenmaßnahmen könnte man diesen Kindern einiges ersparen. Quelle: MEDSTANDARD, 10.03.2008
Weitere Informationen und Buchtipps zu diesem Themenbereich finden Sie in unseren Beiträgen Rund und ungesund - die neue Generation? 14 Mio. Kinder in Europa sind übergewichtig |
Zentrum Rodaun, 1230 Wien, Kaltenleutgebnerstraße 13A / 23
Tel: 01/8892572, e-mail: team@zentrum-rodaun.at