Essstörungen und Selbsthilfe
Immer jünger werden die Mädchen, die an Magersucht, Ess-Brechsucht
oder an Fresssucht leiden, immer häufig suchen auch junge Männer
Rat wegen ihrer Essstörungen bei Ärzten und Psychotherapeuten.
Vor eineinhalb Jahren gründete Silvia Frei mit drei Kolleginnen
das Beratungszentrum für Essstörungen in Zürich. Allein 450 Anrufe
verzeichneten sie im ersten Jahr ihrer Tätigkeit. "Im Vergleich
zu Deutschland sind wir in der Schweiz mit der Erforschung und
Beratung von Essstörungen 15 Jahre im Rückstand", klagt die Psychologin,
die sich bereits vor 12 Jahren auf Anorexie und Bulimie spezialisierte.
In Deutschland entstanden bereits 1984 vergleichbare Zentren.
Heute verfügt bereits jede mittlere deutsche Stadt über eine Beratungsstelle
oder zumindest über eine Selbsthilfegruppe. Auch die Faktenlage
ist in der Schweiz eher spärlich. Es fehlen verlässliche Zahlen
für die Gesamtbevölkerung. Barbara Buddeberg, Psychiaterin im
Universitätsspital in Zürich verweist auf Untersuchungen von Jugendlichen.
Unter 2000 Schülern zwischen 16 und 19 leiden 8 Prozent der Mädchen
und 1,5 Prozent der Buben eindeutig unter Essstörungen. Seit 50
Jahren steigt die Zahl jener, deren gestörtes Verhältnis zum Essen
krankhafte Ausmaße annimmt. Obwohl 10 Prozent der Magensüchtigen
an ihrer Krankheit zugrunde gehen, daran steben, stehen entscheidende
Fragen wie jene nach der adäquten Behandlung noch weitgehend aus.
Methodenvielfalt statt Schrebergärten
"Nach dem derzeitigen Stand der Forschung steht zumindest eines
fest: Keine psychotherapeutische Richtung ist bei Essstörungen
wirksamer als eine andere", sagt Günther Rathner, Innsbrucker
Psychologe und wissenschaftlicher Leiter der international besetzten
Tagung "Dünn sein ist keine Antwort", die Ende Oktober im Alpbach
in Tirol stattfand. Ebenso wie Rathner plädieren auch Manfred
Cierpka, Familientherapeut und ärztlicher Leiter der Abteilung
für Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg und Günter
Reich, Psychologiedozent an der Universität in Göttingen für einen
multimodalen Ansatz bei Essstörungen. Für eine integrative Richtung
spricht die Komplexität des Krankheitsbildes. Wer die Ursache
von Anorexie oder Bulimie ausschließlich in der Familie ortet,
vernachlässigt soziokulturelle Phänomene. Wer die Schuld den dürren
Models gibt, übersieht genetische Dispositionen oder spezielle
Persönlichkeitsmerkmale wie Labilität oder Impulsivität.
Mit der Forderung nach Methodenvielfalt formulieren Rathner und
die anderen Experten auch für Essstörungen, was allgemein für
psychische Störungen gilt. Vor knapp zwei Jahren legte ein amerikanisches
Forscherteam des Instutite for the Study of Therapeutic Change
in Chicago die Ergebnisse seiner umfangreichen empirischen Untersuchungen
vor und lösen damit in der community ein mittleres Erdbeben aus.
Die Wirkungsforscher Mark Hubble, Barry Duncan und Scott Miller
wiesen nach, dass sich die einzelnen Therapierichtungen in ihrer
Wirkung nicht wesentlich unterscheiden. Statt nun weiterhin nur
sein eigenes Schrebergärtchen zu hegen und pflegen, rieten die
Wissenschafter den Praktikern, sich öfter über den Gartenzaun
zu lehnen. Sie sollten ihr Augenmerk auf das richten, was sowohl
in ihren Beeten als auch in jenen des Nachbars gedeiht. Statt
auf Unterschiede zu pochen, sollten Psychotherapeuten studieren,
was schulenübergreifend wirkt und den Handlungsspielraum der Klienten
erweitert.
Doch welcher Therapeut verfügt über ein schulenübergreifendes
Methodenrepertoire? Bei einem stationären Aufenthalt in einer
auf Essstörungen spezialisierten Klinik oder Abteilung ist Therapievielfalt
am ehesten gegeben. So setzt die Psychiatrische Klinik Hohenegg
in Meilen auf Methodenkombination. Erika Toman, auf Essstörungen
spezialisierte Therapeutin der Klinik zählt auf: "Wir bieten analytisch
orientierte Gesprächsgruppen, kreativ-expressive und körperorientierte
Ansätze." Die bayrische Klinik Roseneck bietet neben dem verhaltenstherapeutischen
Schwerpunkt auch Familienberatung und nonverbale Therapieformen
wie Kunst- oder Bewegungstherapie. Stationär aufgenommen werden
essgestörte Menschen meist erst dann, wenn die Krankheit ihr Leben
schwerwiegend beeinträchtigt. Leichtere Formen von Anorexie oder
Bulimie werden ambulant behandelt.
Kunstfehler vermeiden
Um seinem Ziel "komplexe Behandlung für ein komplexes Krankheitsbild"
näher zu kommen, hat der rührige Präsident der Österreichischen
Gesellschaft für Essstörungen Rathner zunächst einen Leitfaden
für die Behandlung entwickelt. Von der Früherkennung der Krankheit
und den damit einhergehenden besseren Heilungschancen über die
berufsspartenübergreifende Behandlung psychischer, familärer und
gesellschaftlicher Faktoren bis hin zur längerfristigen Nachbetreuung
- die zwölf Leitlinien beruhen auf dem aktuellen Stand der Forschung
und auf der langjährigen Erfahrung spezialisierter Kliniken. Im
letzten Jahr entwickelte Günther Rathner das erste interdisziplinäre
Weiterbildungscurriculum für Essstörungen im deutschsprachigen
Raum. International anerkannte Experten wie Ulrike Schmidt, Buchautorin
und Mitarbeiterin am Londoner Institute of Psychiatry, oder Walter
Vandereycken, Professor für Psychiatrie an der Universität in
Leuven, Belgien, lehren Ärzte, Psychologen, Ernährungswissenschafter
und Psychotherapeuten in Wochenendseminaren den Blick über den
Gartenzaun. Rathner fordert nicht nur eine schulenübergreifende
Herangehensweise, sondern auch interdisziplinäre Zusammenarbeit.
"Der Mediziner muss, um Kunstfehler zu vermeiden, psychische Komponenten
mitbedenken, der Therapeut körperliche wie Gewichtsverlust oder
Amenorrhoe."
Eine fundierte Aus- und Weiterbildung würde sich Silvia Frei für
die Schweizer Therapeuten und Ärzte auch wünschen. Sie konzentriert
sich zurzeit auf Traumatherapie. "Häufig ist eine traumatische
Erfahrung wie sexueller Mißbrauch, Gewalt oder der Verlust einer
geliebten Person Ursache für eine Essstörung." Neben Traumatherapie
bietet die Beratungsstelle für Essstörungen Familien-, Gesprächs-
und Verhaltenstherapie an. Der Klient entscheidet, welche Therapieform
für ihn in Frage kommt. Manchmal entscheiden auch Sachzwänge:
"Je nachdem, wer von uns gerade Zeit hat." Die Psychologin weiß,
dass weniger die Therapierichtung zur Veränderung führt, als vielmehr
die gute Beziehung zwischen Klienten und Therapeuten. Sie bewegt
sich damit auf empirisch gesichertem Terrain. Hubble, Duncan und
Miller fanden heraus, dass das Verhältnis zwischen Klienten und
Therapeuten der zweitwichtigste Faktor für Veränderung ist. An
erster Stelle stehen die Selbstheilungskräfte des Klienten. "Sie
sind der Motor, der dafür sorgt, dass Therapie funktionert", formuliert
das amerikanische Forschertrio.
Ohne Selbsthilfe geht es nicht
Nicht nur Therapeuten können die Heilungskräfte von essgestörten
Menschen mobilisieren, auch Ratgeberliteratur und Selbsthilfegruppen
leisten gute Dienste. Ulrike Schmidt und Janet Treasure, Psychiaterinnen
am Maudsley Trust Hospital in London, erzielten mit einem Selbsthilfe-Manual,
das sie bulimischen Frauen, die auf einen Therapieplatz warteten,
in die Hand drückten, sehr gute Erfolge. 22 Prozent der Wartenden
berichteten nach acht Wochen, dass sie ihre Ess- und Brechattacken
besser im Griff haben. Eine Nachfolgeuntersuchung nach 18 Wochen
ergab, dass auf eine stationäre Aufnahme verzichtet werden konnte.
Auch Günther Rathner betont, dass Selbsthilfebücher eine wichtige
Rolle bei Bulimikerinnen spielen. "Wissenschaftliche Studien zeigen,
dass mindestens eine von fünf Betroffenen nur durch die Literatur
symptomfrei werden." Zunehmend wichtiger werden Selbsthilfeportale
im Internet. Sie sind anonym benutzbar, die Hemmschwelle, sich
als essgestört zu outen und Kontakt mit anderen Betroffenen aufzunehmen,
ist gering. Der Psychotherapeut Gerald Kral und die Kommunikationswissenschafterin
Caroline Presslich haben die Website von "hungrig-online.de" untersucht
und Betroffene gefragt, inwieweit das Portal mit Infoseiten, Foren
und Adressenlisten sie bei der Bewältigung von Essstörungen unterstützt.
Über 600 Besucher haben den Fragebogen im Netz ausgefüllt, 250
haben die Wiener bisher ausgewertet. Das Ergebnis spricht eine
deutliche Sprache: 100 von 250 Personen glauben, dass hungrig-online.de
ihnen bei der Heilung von Anorexie oder Bulimie helfen kann, zwei
Drittel meinen, dass die Website ihre Therapiemotivation erhöht.
Beliebtestes Thema im Forum ist die Frage nach Sinn und Wirksamkeit
von Therapie.
Wege aus der Essstörung - 56 Frauen berichten
Das ist der Titel eines Buches von Beate Guldenschuh, die ebenfalls
am Essstörungskongress in Alpbach referierte. Das Buch stellt
den Genesungsprozess anhand von Interviews mit 56 Frauen dar,
die in der Vergangenheit an einer Magersucht und/oder an einer
Bulimie erkrankt waren.
Diese Frauen beschreiben als "Expertinnen" ihren eigenen Weg aus
der Krankheit und nehmen zu folgenden Fragen Stellung:
1. Wie erklären sich ehemals Betroffene den Genesungsprozess?
2. Glauben sie an eine vollständige Heilung?
3. Worin sehen ehemals Betroffene aus heutiger Sicht Reste der
Essstörung?
4. Wie stehen sie zu Rückfällen und zu Symptomverschiebungen?
5. Was würden sie akut Betroffenen raten?
6. Was haben sie aus der Erfahrung mit der Essstörung gelernt?
Das Buch soll Betroffenen, Angehörigen und Interessierten eine
neuen Einblick in die Thematik der Esstörungen geben und Mut machen,
aktiv nach möglichen Schritten aus der Krankheit zu suchen.
Alle sechs Fragen werden im Buch sehr ausführlich dargestellt
und mit persönlichen Zitaten der Untersuchungsteilnehmer-innen
untermauert. In der Folge eine kurze Zusammenfassung der Antworten
auf die erste Frage:
Wie erklären sich ehemals Betroffene den Genesungsprozess?
Die Erklärungen können mit Hilfe folgender Schlagworte beschrieben
werden: Einsicht, Bezugspersonen, Veränderungen außerhalb der
Person, Therapie, Veränderungen in der Person, neue Ziele, Selbstvertrauen/Selbstwertgefühl
und Schwangerschaft/Kinder.
Einsicht
Zur Einsicht kann man über verschiedene Wege gelangen. Entsprechende
Literatur, das eigene Gefühl, das etwas nicht stimmt, der Kontakt
mit anderen Betroffenen und die Therapie an sich spielen dabei
eine wichtige Rolle. Bei der Krankheitseinsicht geht es darum
zu erkennen, dass das eigene Verhalten weder gesund noch normal
ist, sondern eben krank. Dabei ist die Auseinandersetzung mit
den Folgen der Erkrankung ein ganz ein wichtiger Faktor. Auch
Überlegungen zum Hintergrund der Erkrankung sind von entscheidender
Wichtigkeit: Wofür steht die Essstörung? Die Einsicht kann sich
auch durch den Überdruss an der Erkrankung bemerkbar machen, weil
die negativen Aspektee der Erkrankung überwiegen und die Essstörung
als Belastung, als Anstrengung empfunden wird, die das Leben nicht
einfacher, sondern mühsamer und schwieriger gestalten lässt.
Bezugspersonen
Dazu zählen der Partner, Freunde, die Familie und das Umfeld.
Eine gute Partnerbeziehung vermag den Betroffenen die Augen zu
öffnen für Dinge, die ein erfülltes Leben ohne Essstörung ermöglichen.
Der Partner kann als Vertrauensperson fungieren, mit der man über
alles reden kann und das Gefühl vermitteln, unabhängig vom Gewicht
geliebt zu werden. Der Freundeskreis kann eine Hilfestellung bieten,
dadurch, dass die Betroffenen nicht allein sind, irgendwo dazu
gehören und jemanden zum Reden haben. Die Familie kann beispielsweise
überstützend wirken durch Gespräche über die Essstörung und durch
ihre Offenheit gegenüber professioneller Hilfe. Das Umfeld an
sich kann als Orientierungshilfe für neue Problemlösestrategien
hilfreich sein.
Veränderungen ausserhalb der Person
Dazu zählen alle Veränderungen, die die äußeren Lebensumstände
der Untersuchungsteilnehmerinnen betreffen. Es sind damit neue
Lebensbedingungen bzw. der Beginn eines neuen Lebensabschnittes
gemeint eine Chance für einen Neuanfang: Veränderungen im schulischen
oder beruflichen Bereich, die Geburt eines Kindes, ein Umgebungswechsel,...
Therapie
Dabei geht es um die Beziehung zwischen Therapeut und Patient,
die Ursachen der Essstörung, um Lösungsvorschläge und Rahmenbedingungen
in der Therapie. Der Schwerpunkt einer guten therapeutischen Beziehunge
liegt auf dem gegenseitigen Vertrauen, dem Gefühl ernst genommen
zu werden und akzeptiert zu werden. Die Erklärung des Krankheitsbildes
als solches, Entstehungsbedingungen der Erkrankung sind zudem
von Bedeutung. Die Betroffenen sehen im Therapeuten einen Wegbegleiter,
der gemeinsam mit ihnen versucht Lösungsmöglichkeiten für aktuelle
Probleme zu finden und Veränderungswege bespricht.
Veränderungen in der Person
Dabei sind vor allem Änderungen in der Denk- und Gefühlswelt und
gemeint: Schlankheitsstreben, bisherige Bedeutung von Gewicht
und Figur werden in Frage gestellt, die eigenen Bedürfnisse werden
vermehrt wahrgenommen, die Beziehung zum Körper wird neu gestaltet.
Ziele
Die Energie, die bisher für die Krankheit aufgewendet wurde, wird
auf andere Themen und Ziele übertragen: ein gesundes, zufriedenes
Leben führen, den Kopf für neue Gedanken frei zu haben, mehr Kraft
zu haben, nicht nur körperlich (Sport) sondern auch fürs Leben,
denn eine Essstörung macht kraft- und energielos.
Selbstwertgefühl/Selbstvertrauen
Die Steigerung des Selbstwertgefühls des Selbstvertrauen kann
auf verschiedenste Weise erhöht werden. Dies kann beispielsweise
durch Komplimente aus dem Umfeld oder durch eigene Leistungen,
die man sich nicht zugetraut hätte, geschehen.
Schwangerschaft/Kinder
Dazu gehört die negative Auswirkung der Essstörung auf eine Schwangerschaft
(dem Kind fehlen wichtige Nährstoffe) und die Vorbildwirkung für
die Kinder (Kind beginnt sich selbst zu bekritteln). Auch der
Kinderwunsch kann ein Anstoß sein, sich für ein Leben ohne Essstörung
zu entscheiden, genauso wie eine Schwangerschaft an sich ein Beweggrund
sein kann, die Essstörung beenden zu wollen.
© Schweizer Tages-Anzeiger, Beate Guldenschuh
Literatur zum Thema:
Beate Guldenschuh: Wege aus der Essstörung. 56 Frauen berichten.
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